SRF News: Wie ist die Reaktion in Indien auf den Brexit ausgefallen?
Thomas Gutersohn: Die erste Reaktion war Verunsicherung. Das sieht man zum Beispiel an den Märkten. Am Bombay Stock Exchange sind die wichtigsten Indices am Morgen um vier Prozent eingebrochen. Gegen Ende des Handelstages pendelte das zwischen zwei und zweieinhalb Prozent. Auch die Rupie hat an Wert verloren. Die indische Notenbank musste mit Stützungskäufen eingreifen. Der Finanzminister Arun Jaitley sagte, dass man sich auf gewisse Turbulenzen einstellen müsse.
Im Vorfeld gab es auch Stimmen, die sich positiv über den Brexit geäussert hatten. Was ist deren Hoffnung?
Diese Stimmen gibt es durchaus. Es sind jene, die sich noch stärkere wirtschaftliche Beziehungen mit Grossbritannien erhoffen – in Form eines Freihandelsabkommens. Indien exportiert Waren und Dienstleistungen im Wert von etwa acht Milliarden Dollar und importiert fünf Milliarden. Das Land hat also eine positive Handelsbilanz mit Grossbritannien. Aber bisher laufen all diese Geschäfte via EU. Die Aussenhandelsbeziehungen Grossbritanniens sind eine Domäne der EU. Das dürfte sich nun ändern. Ein Freihandelsabkommen zwischen Indien und Grossbritannien könnte den wirtschaftlichen Austausch noch verstärken. Aber Grossbritannien ist auch für viele indische Unternehmen das Tor zur EU. Ob das nun nach dem Entscheid für einen Austritt offen bleibt, ist fraglich.
Grossbritannien ist für viele indische Unternehmen das Tor zur EU. Ob das nun offen bleibt, ist fraglich.
Viele Inderinnen und Inder leben in Grossbritannien oder haben Angehörige dort. Was erwarten sie jetzt von einem Austritt Grossbritanniens?
Die indische Diaspora im Vereinigten Königreich ist gespalten. Dort leben etwa 1,2 Millionen Inder. Es ist somit die grösste indische Gemeinschaft ausserhalb Indiens. Die meisten von ihnen haben das Stimmrecht und viele dürften für den Brexit gestimmt haben, weil sie sich auf dem britischen Arbeitsmarkt aktuell benachteiligt fühlen. EU-Bürger werden innerhalb des Wirtschaftsraums gegenüber Nicht-EU-Bürgern bevorzugt behandelt. Einige Inder erhoffen sich jetzt, dass diese Ungleichbehandlung aufhört. Die britische Arbeitsministerin Priti Patel, selbst Tochter indischer Einwanderer, hat sich schon in diese Richtung geäussert. Sie gehört zur konservativen Tory-Partei und hat klar für einen Brexit lobbyiert.
Auf der anderen Seite stehen jene, die in Grossbritannien ein Geschäft aufgemacht haben und vom freien Handel mit der EU profitieren. Das sind auch nicht wenige. In England gibt es etwa 800 indische Unternehmen, die zusammen rund 3,3 Milliarden Dollar im Jahr umsetzen. Sie stehen auf der Seite der Stabilität und sind sicherlich beunruhigt wegen des heutigen Entscheids. Es herrscht grosse Verunsicherung.
Indien wird in der nächsten Zeit die Nähe zu Grossbritannien suchen.
Vieles hängt davon ab, wie sich das britische Pfund verhält, wie viel es an Wert verliert. Aber Indien wird in der nächsten Zeit auch die Nähe zu Grossbritannien suchen, um die Handelsbeziehungen zu intensivieren, sich als Handelspartner zu profilieren, und auch um Hand zu bieten, jetzt wo das Land etwas alleine dasteht.
Das Gespräch führte Barbara Büttner.