Der Blick auf die Ratings gehört für Philipp Luginbühl zum Alltag. Luginbühl ist Portfolio-Manager bei der Pensionskasse Publica. Er kauft, verwaltet und verkauft Obligationen – Wertpapiere, die zwar keine hohen Renditen bringen, dafür Sicherheit. Artikel 18 des Anlage-Reglements der Publica gibt ihm vor: «Obligationen (…) müssen ein Minimumrating von BBB- oder gleichwertig einer anerkannten Rating-Agentur bzw. Bank aufweisen».
Die Skepsis gegenüber Rating-Agenturen habe zwar zugenommen, sagt Luginbühl, und es sei nur einer von vielen Faktoren, welche eine Anlage bewertet, aber: «Das Rating ist das wichtigste Kriterium». Luginbühl drückt aus, was unter grossen Investoren überall zu hören ist: Die Ratings, vor allem jene der drei grossen Agenturen Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s, sind für institutionelle Anleger noch immer unverzichtbar.
Ringen um Vorherrschaft
Dabei standen sie noch vor Kurzem in der Kritik. Etwa in jener des US-Justizministers Eric Holder, der S&P vorwarf, Investoren irregeführt, den eigenen Profit über deren Interessen gestellt und somit den Ausbruch der Finanzkrise mitverantwortet zu haben.
Standard & Poor's musste kürzlich 1,37 Milliarden US-Dollar Busse bezahlen: S&P habe Investoren über die Qualität von Wertpapieren getäuscht, in denen schlecht abgesicherte Hypotheken gebündelt waren.
Kritik kommt auch von Michel Barnier, bis 2014 EU-Binnenmarkt-Kommissar: «Wir müssen dafür sorgen, dass die Politik wieder Vorherrschaft hat vor den Finanzmärkten», sagte er, nachdem die Rating-Agenturen in die Kritik gerieten, durch ständig sinkende Länder-Ratings die EU-Schuldenkrise mitverursacht zu haben.
Viele Worte, wenige Taten
Das sollte sich nicht wiederholen, Politiker aller Couleur wollten den Einfluss der angelsächsischen Rating-Agenturen einschränken. Von einer eigenen, europäischen Agentur war die Rede, von einer Stärkung der kleinen Agenturen, von einem Rating-Stopp für Länder in finanziellen Schwierigkeiten.
Eine europäische Agentur auf Augenhöhe mit den drei Angelsachsen gibt es bis heute nicht. Die Zahl der kleineren Agenturen, die anerkannt sind, nimmt zwar zu. Doch Moody’s, Fitch und S&P dominieren den Markt nach wie vor.
Geändert hat dies: Sie dürfen Länder-Ratings nur noch drei Mal pro Jahr zu vorbestimmten Terminen veröffentlichen. Die Dokumentationspflichten sind massiv verschärft worden. Und Ratings gelten nicht mehr als blosse Meinung, die Agenturen können haftbar gemacht werden. Das alles ändert nichts daran, dass die Macht der Agenturen ungebrochen ist.
Regulatoren sind gefordert
In den Augen von Alexander Kockerbeck ist ein entscheidendes Problem nicht gelöst. Kockerbeck hat 12 Jahre für Moody’s in New York und Frankfurt gearbeitet, zuletzt als leitender Analyst für Euro-Länder – bis er kündigte, weil er die erneute Herabstufung Italiens für falsch hielt. Er stört sich an der «regulatorischen Macht» der Ratings: Grosse institutionelle Investoren werden durch die Regulierung verpflichtet, Ratings in ihren Entscheiden zu berücksichtigen.
Das sei ein Widerspruch zum Postulat, dass Ratings nur eine Meinungsäusserung seien, sagt Kockerbeck. «Investoren müssen auf die Ratings reagieren, ob sie nun von der Qualität überzeugt sind oder nicht. Das führt dazu, dass an den Märkten automatisch eine Meinung dominiert – und daneben finden viele andere, sehr gute Meinungen kein Gehör», so Kockerbeck.
Die Politik hat das Problem zwar erkannt, doch Veränderungen brauchen Zeit. Bis 2020 sollen nach dem Willen der EU-Kommission alle Bezugnahmen auf Ratings gestrichen sein, und institutionelle Investoren sollten im Falle einer Herabstufung von Schuldtiteln nicht mehr verpflichtet sein, diese automatisch zu veräussern. Bis dahin können Urteile von Moody’s, Fitch und S&P über Schuldner nach wie vor Märkte bewegen.