Der Sommer ist in seinen letzten Zügen, die staugeplagten Tessiner atmen auf. Doch es gibt Ausnahmen, wie Kirstin Hausen, die als Journalistin zwischen Lugano und Mailand pendelt, erklärt: «Die Kinder sind nicht besonders gut gelaunt. Denn sie haben heute ihren ersten Schultag nach den Sommerferien.» Allgemein sei der Tenor aber: Hoffentlich ist es jetzt endlich vorbei.
«Zwischen Juni und August musste man sich überlegen, wie man durch das Nadelöhr Gotthard oder nach Italien kommt», blickt die Journalistin zurück: Wer zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein wollte, musste, so Hausen, «kreativ werden.» Oder schlichtweg ein, zwei Stündchen mehr einberechnen, um rechtzeitig zu einem Termin zu erscheinen.
Leidgeprüfte Einheimische
Hauser berichtet aus leidvoller Erfahrung: «Ich habe alles Mögliche versucht. Ich bin auf die Bahn umgestiegen, die war aber teilweise auch knallvoll; wenn es dann noch beim Umsteigen Probleme gab, dauerte auch alles sehr lange. Oder ich bin mit dem Auto über kleinere Grenzübergänge an den Dörfchen vorbeigefahren.» Immerhin: Sie habe, so die Deutsche augenzwinkernd, das Tessin besser kennengelernt.
Die Terroranschläge im Rest Europas bringen uns viele, viele Gäste.
Wo es Verlierer gibt, gibt es auch Sieger. Diese sind schnell ausgemacht: Die italienische Tourismusindustrie verkündet einen Rekordsommer. Der wohl entscheidende Faktor dafür ist allerdings wenig erfreulich. Der Präsident des italienischen Hotelverbands «Federalberghi», Bernabo Bocca, sagte ungeschminkt: «Ich will nicht zynisch sein, aber die Terroranschläge im Rest Europas bringen uns viele, viele Gäste.» Eine, wie Hausen bestätigt, «fraglos richtige Einschätzung».
Insgesamt soll die Zahl der Übernachtungen in diesem Sommer um mindestens 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen sein. Und auch ob der Klientel reiben sich unsere südlichen Nachbarn die Hände. Denn, wie Bocca erfreut verkündete, soll das Luxussegment Italien neu entdeckt haben: «Wer sonst mit der Yacht der Côte d’Azur entlang gesegelt ist, ist jetzt vor Sardinien, Capri oder Ligurien.»
Daneben markiert aber, wie Hauser erzählt, auch die Stammklientel Präsenz: «Auf der Strasse sah man weiter sehr viele holländische Wohnmobile, bis oben hin vollgepackte Autos mit Schlauchbooten und weiss der Kuckuck was.» Das Fazit der deutschen Journalistin: Viele Reisende, ein Ziel. Der (vermeintlich) sichere Süden abseits der türkischen oder französischen Riviera.
Sitzleder gefragt: Marathonfahrten wieder in Mode
Der Terror wirkt sich indes nicht nur auf das Reiseziel, sondern auch die Art des Reisens aus. In Zeiten, da auch der öffentliche Verkehr zum Ziel wird, setzen die Menschen offenbar wieder vermehrt auf die eigenen vier Räder: «Im eigenen Auto fühlen sie sich vielleicht sicherer als in der Bahn oder im Flugzeug», mutmasst Hausen.
Deswegen, so scheint es, nehmen viele Reisende nun auch längere Fahrten in Kauf: «Man sieht beispielsweise vermehrt Kennzeichen aus Norddeutschland. Diese Leute fahren schnell einmal mehr als tausend Kilometer, bevor sie überhaupt im Tessin sind.»
Tanken im Tessin, Sonnen in Italien
Doch auch im Tessin gibt es neben viel Lärm und Abgasen Profiteure: «In Italien ist das Benzin teurer, also haben viele Touristen noch einmal vor der Grenze vollgetankt.» Die Tankstellenbesitzer freut’s, die anderen weniger: «Auch beim Tanken stand man Schlange…», so Hausen.
Als Räststätte oder gar für eine Übernachtung bot sich der Südkanton aber weniger an. Wer wirklich weit in den Süden fahren wolle, mache meist erst Pause, wenn er die italienische Grenze hinter sich habe. So bleiben neben den nervösen Gesichtern der Einheimischen auch die enttäuschten der Raststättenbesitzer und Hotelliers.