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Zeit der Unsicherheit Warum die Religion nicht mehr der Fixstern in Krisenzeiten ist

Seien es die steigenden Kosten durch die Inflation, die Angst vor dem Krieg in der Ukraine oder die knappe Energie: In solch kritischen Situationen wandten sich die Menschen traditionellerweise oft der Religion zu. Doch dies scheint immer weniger der Fall zu sein. Noch nie verzeichnete die römisch-katholische Kirche in der Schweiz so viele Kirchenaustritte wie im letzten Jahr: gut 35'000. Dorothea Lüddeckens ist Professorin für Religionswissenschaft und Dekanin der theologischen Fakultät der Universität Zürich und erklärt, weshalb das so ist.

Dorothea Lüddeckens

Professorin für Religionswissenschaft und Dekanin der theologischen Fakultät der Universität Zürich

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Seit 2010 ist Dorothea Lüddeckens ausserordentliche Professorin für Religionswissenschaft mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung an der Universität Zürich. Ihre Schwerpunkte sind die Erforschung religiöser Gegenwartskulturen, Religion und Medizin wie auch alternative Spiritualität am Lebensende.

SRF News: Warum ist Religion nicht mehr der Fixstern, zu dem sich die Menschen in Zeiten grosser Unsicherheit wenden?

Dorothea Lüddeckens: Insgesamt ist das Bedürfnis und auch die Bereitschaft, sich in feste Gemeinschaften einzugliedern, gesunken. Auch in eine Kirchengemeinde gliedert man sich nicht mehr so gerne ein. Man kann das von beiden Seiten sehen: Man muss heute nicht mehr Kirchenmitglied sein, und keiner wird schief angeschaut, wenn er nicht in die Kirche geht. Das heisst, wir haben einerseits eine grosse Freiheit dadurch gewonnen, überall da, wo das als Belastung erlebt wurde. Andererseits ist damit in der Gesellschaft für viele Menschen etwas verloren gegangen.

Es ist tatsächlich ein Problem, das vor allem traditionelle, organisierte Religionen betrifft. Ist das Bedürfnis nach etwas Grösserem im menschlichen Leben noch immer vorhanden?

Ja, aber es wird von anderen Seiten erwartet als von der Kirche. Das heisst natürlich nicht, dass deshalb die Menschen nicht weiter existenzielle Fragen haben oder dass Sorgen plötzlich verschwinden. Nur: Die Antworten auf diese Sorgen suchen viele Menschen heute woanders.

Und wo?

Die grösseren Erzählungen unserer Gesellschaft sind nicht mehr die traditionell kirchlichen, sondern können politische Erzählungen oder sogenannte Verschwörungstheorien sein. Das Problem ist aber, dass die Hoffnung so ein bisschen abhandenkommt.

Es ist ein Bedürfnis, dass man bestätigt wird von anderen. So wie ich früher im Gottesdienst bestätigt wurde, dass meine Sitznachbarn das gleiche «Vater Unser» beten, so ist das heute für Leute, die anderen Theorien anhängen, auch wichtig.

Daraus ergibt sich ein psychischer Stress, den wir in der Gesellschaft zunehmend beobachten können. Damit möchte ich nicht sagen, dass religiöse Antworten immer Abhilfe schaffen. Aber wenn sie mich überzeugen, schaffen sie einen entlastenden Rahmen. Ich habe eine Antwort, auf die ich zurückgreifen kann. Und das gibt es so in unserer Gesellschaft für viele Leute nicht mehr.

Und können Verschwörungstheorien Antworten liefern auf grosse Fragen?

Genau. Und auch Antworten, die nicht nur von mir geteilt werden. Es ist ein Bedürfnis, dass man bestätigt wird von anderen. So wie ich früher im Gottesdienst bestätigt wurde, dass meine Sitznachbarn das gleiche «Vater Unser» beten, so ist das heute für Leute, die anderen Theorien anhängen, auch wichtig. Ich sehe etwa, da läuft jemand an der Demonstration mit, der auch meiner Meinung ist.

Also die traditionellen Funktionen von Religion wie Gemeinschaft und Rituale übernehmen heute politische Erzählungen oder Verschwörungstheorien?

Zum Teil. Andererseits, glaube ich, sind es tatsächlich auch Leerstellen. Es ist unverbindlicher geworden, damit natürlich auch freier. Ich denke, wir müssen in unserer Gesellschaft mehr aushandeln im Hinblick auf ethische und moralische Fragen. Ist es akzeptabel, dass Menschen selbstbestimmt sterben möchten und dafür Unterstützung bekommen? Die Meinung des Papstes dazu ist für viele weniger wichtig geworden. Insofern muss die Gesellschaft mehr arbeiten im Hinblick auf Verständigungsprozesse.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

Echo der Zeit, 30.12.2022, 18:00 Uhr ; 

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