Jeden Tag schlich sich Martin (Name der Redaktion bekannt) während der Arbeit in sein Auto. Dort wartete eine PET-Flasche auf ihn – nicht gefüllt mit Softdrinks, sondern mit Wodka. Über 20 Jahre war Martin alkoholabhängig. Heute ist er trocken - unter anderem dank der Selbsthilfegruppe «Anonyme Alkoholiker».
SRF: Wie viel haben Sie täglich getrunken?
Angefangen hat es mit einem Feierabendbier. Bald wurden daraus zwei, drei, vier – und irgendwann reichte das nicht mehr. Ich fing an mit Spirituosen. Ich trank, was ich gerade zu Hause hatte: Wodka und Whiskey, dazu Bier und Wein. Es klingt schlimm, wenn ich sage, dass ich innerhalb von 24 Stunden mindestens eine Flasche Wodka und eine Flasche Whiskey getrunken habe. Aber das war die Realität.
Wie sah Ihr Alltag aus?
Ich wachte nachts auf und musste trinken, um weiterschlafen zu können. Am Morgen musste ich trinken, damit ich mich aufraffen konnte, zur Arbeit zu gehen. Während der Arbeit schlich ich in die Tiefgarage, wo ich im Auto eine Rivella-Flasche lagerte. Darin war Wodka. Nur mit Alkohol konnte ich funktionieren. Ohne hätte ich während der Kaffeepause nicht mal eine Tasse halten können, ohne zu zittern.
Wann wurden Sie enttarnt?
Meine Leistung bei der Arbeit nahm immer mehr ab. Dann sah mich jemand, wie ich ins Auto stieg und trank. Darauf stellt mich die Geschäftsleitung zur Rede: «Entweder du machst etwas oder wir kündigen dich.» Das war mein Wendepunkt. Eine Sozialarbeiterin hat mir dann eine Klinik empfohlen. Ich meldete mich direkt an und machte einen Entzug.
Entscheidend war mein Wille: Ich wollte mein Leben zurück.
Wie schwer war der Entzug?
Dadurch, dass man in der Klinik medizinisch versorgt wird und man Medikamente bekommt, war es nicht so dramatisch. Entscheidend war aber auch mein Wille: Ich wollte mein Leben zurück, meinen Beruf weiter ausüben. Ich wusste: So kann es nicht weitergehen.
Ich hatte das Glück, dass ich die Anonymen Alkoholiker kennengelernt habe. Sie haben mir sehr geholfen, im Umgang mit dem Alkohol und bei persönlichen Problemen. In den Meetings kann ich offen sprechen, ohne negative Kommentare zu befürchten. Ich war froh, mit Menschen zu reden, die wissen, was ein Saufdruck ist und wie man damit umgeht.
Man kann die Sucht nicht heilen, nur zum Stillstand bringen.
Gab es Rückfälle?
Nein. Zwar hatte ich gelegentlich das Verlangen nach einem Bier, aber ich habe standgehalten. Die Sucht ist weit weg, aber verschwindet nie ganz. Es ist eine lebenslange Krankheit. Man kann sie nicht heilen, nur zum Stillstand bringen. Jeden Tag ist man gefordert. Man muss lernen, sich selbst «Nein» zu sagen.
Machen Sie nie eine Ausnahme? Auch kein Glas Sekt zum Anstossen?
Das wäre der Anfang vom Ende. Ich muss für mich selbst strikt sein. Ich weiss ganz genau, dass ich es sonst nicht im Griff hätte. Ein Glas – und ich wäre wieder da, wo ich nie wieder hinwill. Ich lebe gerne.
Wie blicken Sie heute auf über 20 Jahre Alkoholsucht zurück?
Auch in der Sucht gab es schöne Zeiten. Aber vieles war verlorene Zeit. Ich kann es nicht rückgängig machen. Ich hatte nicht geahnt, wie schlimm es wird – bis ich merkte: Mein Körper verlangt diese Substanz. Ich brauchte Alkohol, um zu funktionieren. Dabei habe ich mir kein Gedanken gemacht, dass ich es in 20 Jahren bereuen könnte.
Das Gespräch führte Lisa Wickart.