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90 Jahre Anonyme Alkoholiker Trockener Alkoholiker: «Ich wachte nachts auf und musste trinken»

Martin trank täglich eine Flasche Wodka und Whiskey. Dann schaffte er den Entzug. Doch die Sucht bleibt.

Jeden Tag schlich sich Martin (Name der Redaktion bekannt) während der Arbeit in sein Auto. Dort wartete eine PET-Flasche auf ihn – nicht gefüllt mit Softdrinks, sondern mit Wodka. Über 20 Jahre war Martin alkoholabhängig. Heute ist er trocken - unter anderem dank der Selbsthilfegruppe «Anonyme Alkoholiker».

Martin

Trockener Alkoholiker

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Martin heisst eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Er war 20 Jahre lang alkoholabhängig. Heute ist er trocken. Martin lebt in der Nordwestschweiz, ist etwa 70 Jahre alt, pensioniert und hat einen Hund.

SRF: Wie viel haben Sie täglich getrunken?
Angefangen hat es mit einem Feierabendbier. Bald wurden daraus zwei, drei, vier – und irgendwann reichte das nicht mehr. Ich fing an mit Spirituosen. Ich trank, was ich gerade zu Hause hatte: Wodka und Whiskey, dazu Bier und Wein. Es klingt schlimm, wenn ich sage, dass ich innerhalb von 24 Stunden mindestens eine Flasche Wodka und eine Flasche Whiskey getrunken habe. Aber das war die Realität.

90 Jahre Anonyme Alkoholiker

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Die Anonymen Alkoholiker wurden 1935 in den USA von Bill Wilson und Dr. Bob Smith gegründet. In der Schweiz gibt es sie seit 1956, zuerst in der Westschweiz, später auch in der Deutschschweiz.

Die AA sind eine unabhängige Non-Profit-Organisation, die sich aus freiwilligen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert. Die Selbsthilfegruppe bietet einen geschützten Raum für Menschen, die mit dem Trinken aufhören möchten.

Die Treffen folgen dem Zwölf-Schritte-Programm, das Selbsthilfe, Gemeinschaft und persönliche Verantwortung betont.

Gemäss Schätzungen gibt es weltweit etwa 125.000 Gruppen mit über zwei Millionen Mitgliedern.

Wie sah Ihr Alltag aus?
Ich wachte nachts auf und musste trinken, um weiterschlafen zu können. Am Morgen musste ich trinken, damit ich mich aufraffen konnte, zur Arbeit zu gehen. Während der Arbeit schlich ich in die Tiefgarage, wo ich im Auto eine Rivella-Flasche lagerte. Darin war Wodka. Nur mit Alkohol konnte ich funktionieren. Ohne hätte ich während der Kaffeepause nicht mal eine Tasse halten können, ohne zu zittern.

Wann wurden Sie enttarnt?
Meine Leistung bei der Arbeit nahm immer mehr ab. Dann sah mich jemand, wie ich ins Auto stieg und trank. Darauf stellt mich die Geschäftsleitung zur Rede: «Entweder du machst etwas oder wir kündigen dich.» Das war mein Wendepunkt. Eine Sozialarbeiterin hat mir dann eine Klinik empfohlen. Ich meldete mich direkt an und machte einen Entzug.

Entscheidend war mein Wille: Ich wollte mein Leben zurück.
Autor: Martin Trockener Alkoholiker

Wie schwer war der Entzug?
Dadurch, dass man in der Klinik medizinisch versorgt wird und man Medikamente bekommt, war es nicht so dramatisch. Entscheidend war aber auch mein Wille: Ich wollte mein Leben zurück, meinen Beruf weiter ausüben. Ich wusste: So kann es nicht weitergehen.

Ich hatte das Glück, dass ich die Anonymen Alkoholiker kennengelernt habe. Sie haben mir sehr geholfen, im Umgang mit dem Alkohol und bei persönlichen Problemen. In den Meetings kann ich offen sprechen, ohne negative Kommentare zu befürchten. Ich war froh, mit Menschen zu reden, die wissen, was ein Saufdruck ist und wie man damit umgeht.

Man kann die Sucht nicht heilen, nur zum Stillstand bringen.
Autor: Martin Trockener Alkoholiker

Gab es Rückfälle?
Nein. Zwar hatte ich gelegentlich das Verlangen nach einem Bier, aber ich habe standgehalten. Die Sucht ist weit weg, aber verschwindet nie ganz. Es ist eine lebenslange Krankheit. Man kann sie nicht heilen, nur zum Stillstand bringen. Jeden Tag ist man gefordert. Man muss lernen, sich selbst «Nein» zu sagen.

Fakten über Alkoholsucht

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  • Etwa 20 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz konsumiert Alkohol in einem schädlichen Ausmass. Dies umfasst sowohl chronischen als auch punktuell risikoreichen Konsum.
  • Genetische Faktoren beeinflussen das Suchtrisiko zu 40 bis 60 Prozent, jedoch spielen auch familiäre Beziehungen, Stress und soziale Normen eine Rolle.
  • Studien zeigen, dass Kinder von alkoholabhängigen Eltern ein bis zu vierfach erhöhtes Risiko haben, selbst abhängig zu werden.
  • Schätzungen zufolge sind in der Schweiz rund 250.000 bis 300.000 Menschen alkoholabhängig. 
  • Der Körper von Frauen baut Alkohol langsamer ab und ist empfindlicher gegenüber den schädlichen Wirkungen. Studien zeigen, dass Frauen oft bereits bei geringeren Mengen eine Abhängigkeit entwickeln.
  • Alkohol ist für mehr gesundheitliche Probleme und Todesfälle verantwortlich als illegale Drogen und führt weltweit zu über 3 Millionen Todesfällen jährlich.

Machen Sie nie eine Ausnahme? Auch kein Glas Sekt zum Anstossen?
Das wäre der Anfang vom Ende. Ich muss für mich selbst strikt sein. Ich weiss ganz genau, dass ich es sonst nicht im Griff hätte. Ein Glas – und ich wäre wieder da, wo ich nie wieder hinwill. Ich lebe gerne.

Wie blicken Sie heute auf über 20 Jahre Alkoholsucht zurück?
Auch in der Sucht gab es schöne Zeiten. Aber vieles war verlorene Zeit. Ich kann es nicht rückgängig machen. Ich hatte nicht geahnt, wie schlimm es wird – bis ich merkte: Mein Körper verlangt diese Substanz. Ich brauchte Alkohol, um zu funktionieren. Dabei habe ich mir kein Gedanken gemacht, dass ich es in 20 Jahren bereuen könnte.

Das Gespräch führte Lisa Wickart.

Radio SRF 1, Radiotipp, 7.6.2025, 17:50 Uhr ; 

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