Zehntausende Menschen in der Schweiz kehren der Kirche jährlich den Rücken. Trotzdem sieht der ehemalige Pfarrer Daniel Kallen bei den Menschen einen Wunsch nach Spiritualität und einen Glauben, der viel weiter geht als die Kirche.
SRF: Sie haben als 40-jähriger Pfarrer ein Buch geschrieben. Sie prangern darin die dunklen Kapitel der Bibel an. Was stört Sie?
Daniel Kallen: Ich habe gelernt, dass die Bibel die Grundlage des christlichen Glaubens sei. Doch in der Bibel gibt es Texte, über die ich nicht predigen konnte. Zum Beispiel wenn Gott befiehlt, dass alle Kinder und Säuglinge getötet werden sollen oder wenn Paulus sagt, die Frau schweige in der Gemeinde. Ich habe mir meine Wut über diese dunklen Stellen in der Bibel von der Seele geschrieben.
Das hat Ärger gegeben?
Ja, ich wurde eine Zeitlang sehr kritisiert. Es gibt zwar eine schöne Anekdote: Als ich einmal beim Synodalratspräsidenten im Büro war, schloss er die Tür, kam ganz nah zu mir und meinte: «Daniel, ich sehe es genau wie du, aber ich kann das nicht öffentlich sagen.»
Sie haben dann der Kirche den Rücken gekehrt, aber nicht dem Glauben?
Ich wurde freischaffend, weil ich spürte, dass für viele der Gottesdienst nicht mehr stimmte. In Gesprächen haben mir die Menschen gesagt, dass sie lieber auf einen Spaziergang gehen würden, als in die Kirche zu kommen.
Die Menschen fragen sich heute nicht mehr, ob Gott ihnen vergibt.
Dort hätten sie auch ihre Gottesbegegnungen. Da wusste ich, dass ich nicht mehr erwarten kann, dass die Leute zu mir kommen. Vielmehr wollte ich hinaus zu den Menschen gehen.
Sie sehen also eine Diskrepanz zwischen dem, was die Kirche offiziell vermittelt und was die Menschen wollen?
Ja unbedingt. Die Menschen fragen sich heute nicht mehr, ob Gott ihnen vergibt. Sie wissen, wenn es einen Gott gibt, dann versteht er mich und mein Handeln. Es braucht keinen Priester mehr, der Absolution erteilt. Es ist heute bei den Menschen ein Glaube da, der viel weiter geht als die Kirche.
Wie sieht für Sie ein Glaube für die Zukunft aus?
Ich träume von einer Religion, die am Ende nicht christlich, muslimisch, jüdisch oder was auch immer ist und keine Kathedralen, Synagogen oder Moscheen braucht. Eine Religion, die nicht von Sünde redet oder Gehorsam fordert. Ich wünsche mir eine Religion, die dem Menschen entspricht.
Ganz klassisch gesagt: Ich traue Gott immer noch zu, dass er Menschen berührt.
Immer mehr Menschen finden den Zugang zu einer Spiritualität, die berührt, verzaubert und erlöst. Und erlösen heisst ja nicht mehr, dass mich ein Gott im Himmel erlöst. Sondern dass ich im Hier und Jetzt mit mir ins Reine komme. Dass Fehler nicht eine Sünde sind, sondern eine Gelegenheit mich weiterzuentwickeln.
Gibt es in dieser neuen Religion einen Gott? Etwas Grösseres?
Ich möchte nicht eine neue Religion begründen. Ich bin zufrieden mit dem, was da ist, wenn auch nicht mit allem. Ich glaube schon, dass es legitim ist, an etwas Grösseres zu glauben.
Religion ist so vielfältig und bunt wie das Leben.
Die Religion hat einmal mit einer Erfahrung angefangen, dass es etwas Grösseres gibt als uns Menschen. Ob ich dem nun Gott sage, oder Gewissen oder Kosmos ist ja letztendlich nicht so wichtig.
Und wie finde ich den Weg in diesen Glauben?
Ganz klassisch gesagt: Ich traue Gott immer noch zu, dass er Menschen berührt. Das kann irgendwo und irgendwie passieren. Vielleicht merke ich, dass ich etwas ändern will in meinem Leben. Vielleicht bin ich auf einem Spaziergang und denke, dass ich jetzt nach Hause gehe und einen Brief schreibe. Oder ich spüre, dass ich mich mit einem bestimmten Menschen versöhnen möchte. Religion ist so vielfältig und bunt wie das Leben.
Das Gespräch führte Mark Schindler.