Mir ist ein Buch in die Hände gekommen, das mir gezeigt hat, wie wenig Ahnung ich habe – obwohl ich meinte, ich hätte Ahnung. Es heisst «Prügel – eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt», geschrieben hat es die Journalistin und Autorin Antje Joel.
Es hat mir gezeigt, dass ich falsche Bilder und Vorstellungen im Kopf habe. Damit bin ich nicht alleine. Das Problem: Solche falschen Bilder und Vorstellungen schaden den Betroffenen.
Eine Vorstellung, mit der Antje Joel aufräumt: Nur weil die Beziehung vorbei ist, heisst das nicht, dass es mit der Gewalt vorbei ist. Eine Trennung allein bedeutet noch kein Ende der Gewalt:
«Unsere Vorstellung ist: Die Frau muss einfach nur gehen, dann ist es vorbei. Das ist mitnichten so. Dann fängt es oft erst an», sagt Antje Joel.
Vorurteil Nr. 1: Selbst schuld, wenn sie zurückkehrt
75 Prozent der schwersten Übergriffe – Mord inklusive – fänden statt, nachdem die Frau ihren Partner verlassen hat, sagt Antje Joel. Frauen machten die Erfahrung, dass die Justiz und die Gesellschaft sie nicht schützten – entgegen aller Gesetze. Sie selber habe noch Jahrzehnte nach der Trennung Drohanrufe bekommen.
Drohungen erschweren eine Trennung
Eine Trennung sei immer ein Prozess, sagt Pia Allemann, Co-
Leiterin der Beratungsstelle für Frauen BIF , die auf Gewalt in Ehe und Partnerschaft fokussiert.
Auch in einer Beziehung, in der keine Gewalt angewendet wird, bringe eine Trennung grundlegende Fragen mit sich: Verliere ich meine Wohnung? Kann ich den Lebensunterhalt allein bestreiten? Was ist mit den Kindern? Wer hält zu mir?
In einer Situation mit häuslicher Gewalt kämen dazu Drohungen, die es schwieriger machen: «Verschiedene Forschungen zeigen, dass man drei bis fünfmal zurückgeht, bis man es dann tatsächlich schafft», sagt Allemann.
Für Angehörige sei das kaum auszuhalten: Wieso ist sie nicht zu uns gekommen, warum ist sie dageblieben? Dies könne dazu führen, dass die Angehörigen nichts mehr für die Betroffene täten. Dies sei absolut nicht hilfreich: «Sie brauchen Unterstützung. Dass man ihnen glaubt, ist das Wichtigste.»
Vorurteil Nr. 2: Es trifft nur die schwachen Frauen
Pia Allemann sagt, es seien alle Gesellschaftsschichten gleich betroffen: «Wir beraten alle, von der Migrantin, die um ihren Aufenthaltsstatus bangt, bis zur gestandenen Professorin.»
Die Autorin Antje Joel hat in zwei Ehen Gewalt erlebt. Zu Beginn der ersten Beziehung war sie ein Punk und sie stellt auch klar, welche Position sie in der zweiten Ehe einnahm: «In meiner zweiten Ehe war ich diejenige, die für acht Personen den Lebensunterhalt verdient hat. Was ist daran unselbstständig?»
Es sind nicht nur grobe Machotypen
Auch über die Partner und Ex-Partner, die Gewalt ausüben, gebe es falsche Bilder. «Es ist einer der grössten Mythen häuslicher Gewalt, dass es den gewalttätigen Männern auf die Stirn gemeisselt steht», sagt Joel, «dass es alles grobe Typen sind, Machotypen. Nichts entspricht weniger der Wahrheit.»
Viele Frauen erzählten in der Beratung, dass sie sich am Anfang der Beziehung nie so aufgehoben gefühlt haben, sagt Pia Allemann: «Erst mit der Zeit merkt man, dass es in Kontrolle und Isolation ausartet.»
Das eigene Zuhause ist für eine Frau der gefährlichste Ort überhaupt
Ein Blick in die aktuelle Polizeistatistik zeigt: Alle vier Wochen tötet ein Mann seine Partnerin. Bei uns, in der Schweiz.
Gegen 40 Prozent aller polizeilich registrierten Straftaten sind dem häuslichen Bereich zuzuordnen. Durchschnittlich ereignet sich die Hälfte aller vollendeten Tötungsdelikte in der Schweiz im häuslichen Bereich, zeigen die Zahlen des eidgenössischen Büros zur Gleichstellung von Mann und Frau ( Link ).
Warum?
Am Ende bleibt die Frage nach dem Warum. Warum auch heute gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt ist.
Erst nach und nach habe man verstanden, dass häusliche Gewalt keine Familienangelegenheit sei, sondern ein riesiges gesellschaftliches Problem darstelle, sagt Pia Allemann. Es verursache ausserdem enorme Kosten:
Laut einer Studie kostet häusliche Gewalt rund 500 Millionen pro Jahr. Es ist immens.
Antje Joel meint dazu: «Die UNO nennt häusliche Gewalt als die am weitesten verbreitete Menschenrechtsverletzung. Trotzdem nehmen wir sie nicht zur Kenntnis. Es gibt keine Gleichwertigkeit in unserer Gesellschaft.»
Keine Privatsache, sondern ein Verbrechen
Mir hat Antje Joel meine blinden Flecken gezeigt und ich bin froh darum. Denn Ignoranz schadet den Betroffenen. Häusliche Gewalt ist keine Privatsache und keine Familienangelegenheit, sondern ein Verbrechen.