Schätzungsweise 2200 Menschen sind in der Schweiz obdachlos. Dies zeigt die Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz» der Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz. Darunter finden sich auch junge Obdachlose. 18 Prozent der Obdachlosen sind zwischen 18 und 25 Jahren alt, geschätzt sind es also ungefähr 420 heranwachsende Personen, welche kein Zuhause haben.
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Bild 1 von 2Legende: Nicht alle Obdachlose fallen einem direkt ins Auge, wie es hier der Fall ist. Oftmals sind Menschen, welche auf der Strasse leben, auch versteckt und für die Gesellschaft unsichtbar. Keystone/Stephan Torre
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Bild 2 von 2Legende: Das Wichtigste ist immer mit dabei, meist in Rucksäcken und Taschen. In Parks finden Obdachlose oftmals etwas Rückzug. Vielleicht findet sich noch eine öffentliche Toilette, welche Schutz vor Wind und Kälte bietet. Keystone/Salvatore di Nofli
Zu minderjährigen Obdachlosen in der Schweiz gibt es gar keine Zahlen. Jörg Dittmann, Leiter der Studie, sagt: «Über noch jüngere Menschen haben wir keine konkreten Zahlen. Aus dem Ausland wissen wir jedoch, dass 60 Prozent der Erwachsenen erstmals im Alter von unter 18 Jahren obdachlos wurden.» Die Forschung geht dabei zusätzlich von einer grossen Dunkelziffer aus.
Überlebenskünstler mit Herz
Einer dieser minderjährigen Obdachlosen war vor vielen Jahren Roger Meier. Er wurde mit gerade mal 17 Jahren das erste Mal obdachlos, als er vor seinem gewalttätigen Pflegevater von Zuhause floh. Fast sein ganzes Leben verbrachte er ab dann immer wieder auf der Strasse.
Mittlerweile ist er über 60 Jahre alt und hat seit rund sechs Jahren einen festen Wohnsitz. Seinen Lebensunterhalt verdient er unter anderem als «Surprise»-Verkäufer und Stadtführer. Auf seinen Touren teilt er seine Erfahrungen und versucht so zurückzugeben, was ihm die unterschiedlichen Institutionen in seiner Zeit als Obdachloser gegeben haben.
Das Schicksal von Roger Meier ist kein Einzelfall. In der Schweiz gibt es viele junge Menschen ohne festen Wohnsitz. Die Ursachen dafür sind vielfältig und schwer zu ergründen.
Präventionshilfe
Der ehemalige Obdachlose Roger Meier hat während seiner Jahre auf der Strasse viele junge Obdachlose getroffen und ihnen gezeigt, wie man überlebt. Welche Verhaltensweisen ratsam sind und welche Institutionen helfen können.
Eine unterstützende Rolle spielen dabei Notschlafstellen, die speziell auf junge Menschen ausgerichtet sind. Nebst dem Nemo in Zürich ist dies seit Mai 2022 auch das Pluto in Bern. Diese Notschlafstelle bietet 14- bis 23-Jährigen das ganze Jahr über einen kostenlosen Schlafplatz, eine warme Mahlzeit und Unterstützung an.
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Bild 1 von 4Legende: Sitzungen Das Team vom Pluto an einer ihrer Sitzungen. Hier ist auch der Ort, an dem die Teammitglieder und die Nutzende des Plutos jeweils zusammenkommen und essen. Erlaubt ist aber auch, das Abendessen aufs Zimmer zu nehmen und dort zu essen. Manuel Lopez
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Bild 2 von 4Legende: Einzel- und Doppelzimmer Das Spezielle an der Notschlafstelle Pluto ist unter anderem, dass sie Einzel- und Doppelzimmer für die Nutzende haben. So sorgen sie für Sicherheit und Privatsphäre. Alle Zimmer sind nach Planeten benannt, wie hier das Zimmer Venus. Manuel Lopez
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Bild 3 von 4Legende: Waschraum Die Nutzende von Pluto haben im Haus auch die Möglichkeit ihre Wäsche zu waschen. Dafür gibt es im unteren Stock den Waschraum. Manuel Lopez
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Bild 4 von 4Legende: Familiärer Aufenthaltsraum Der Gemeinschaftsraum ist hell und freundlich gestaltet. Hier finden am Abend oft auch Spiele zusammen mit den Betreuenden statt oder es wird ein Film geschaut. Die Stimmung im Pluto ist ungezwungen und teils auch familiär. Manuel Lopez
Die hohe Auslastung des Plutos zeigt die Dringlichkeit der Problematik. In den ersten sechs Monaten nach der Eröffnung des Plutos wurden 1130 Übernachtungen von 70 unterschiedlichen Nutzenden verbucht.
Laut Mitarbeiterin Christine Blau sind die Gründe, weshalb bereits junge Menschen kein Zuhause haben, vielfältig. Gewalt im Herkunftssystem, beispielsweise der Familie oder auch der Pflegefamilie, sei dabei aber einer der häufigsten Gründe bei den Nutzenden von Pluto. Ähnlich wie das auch beim ehemaligen Obdachlosen Roger Meier vor vielen Jahren der Fall war.
Er wurde handgreiflich und schüttelte mich stark. Ich fühlte mich danach zu Hause nicht mehr sicher.
Auch bei Mia (Name von der Redaktion geändert) war Gewalt der Grund, dass sie die Notschlafstelle Pluto aufgesucht hat: «Ich zog damals in eine WG. Dort hatte ich dann eine Auseinandersetzung mit dem Hauptmieter. Er wurde handgreiflich und schüttelte mich stark. So, dass ich dann die Polizei rufen musste. Ich fühlte mich danach zu Hause nicht mehr sicher und war plötzlich ohne Obdach.»
Mia schlief nach diesem Vorfall rund 1.5 Wochen im Pluto. Zu diesem Zeitpunkt war sie gerade mal 21 Jahre alt. «Das Pluto half mir in einer schwierigen Zeit und gab mir die Sicherheit, welche ich zu dieser Zeit brauchte. So hatte ich einen Schlafplatz und Personen, welche mich unterstützten.» Auch heute kommt Mia immer mal wieder auf Besuch ins Pluto. Die Mitarbeitenden helfen ihr beispielsweise bei der Suche für passende Sozialangebote oder einer Wohnung.
Aber nicht immer ist Gewalt die Ursache, dass junge Menschen auf der Strasse landen. Andere Gründe sind beispielsweise Konsum-, Sucht- oder Drogenprobleme. Oft sind Jugendliche auch mit dem System überfordert und finden ihren passenden Platz in der Gesellschaft nicht. Sie sind mit ihrem Leben und der Situation überfordert und landen auf der Strasse.
Zudem dürfen Jugendheime Personen meist nur bis zum 18. Lebensjahr betreuen, viele Betroffene haben danach keine passende Anschlusslösung und werden aus diesem Grund obdachlos.
Jede Person darf hier übernachten und kann mit uns eine Anschlusslösung suchen.
Pluto agiert präventiv, indem sie helfen, bevor es zu spät ist: «Wir arbeiten sehr niederschwellig. Jede Person darf hier übernachten und zusammen mit ihr suchen wir eine passende Anschlusslösung. Wenn eine Person einen Schlafplatz braucht, muss sie uns aber nur so viel erzählen wie sie will. Durch unser Angebot leisten wir einen wichtigen Schritt in der Präventionsarbeit», so Christine Blau.
Wie viele Personen in der Schweiz wirklich obdachlos sind, dazu wurde bis jetzt wenig geforscht. Erst in den letzten Jahren hat die Forschung bewusst ihren Fokus darauf verstärkt. Gemäss Jörg Dittmann wird sich die zukünftige Forschung auch auf die jungen Obdachlosen konzentrieren: «In den nächsten drei Jahren wollen wir mehr über junge Obdachlose herausfinden. Der Schweizer Nationalfonds hat uns dafür die finanzielle Grundlage gegeben. Konkret wollen wir den Ursachen für diese Problematik auf den Grund gehen.»
Durch dieses Projekt will das Forschungsteam, den betroffenen Menschen helfen und zu einer Verbesserung deren Lebenssituation beitragen – bei einer Problematik, welche auch bei uns in der Schweiz prekär ist und jede Person treffen kann.