Der Deutschschweizer Bachelor 2020, Alan Wey, spricht ganz selbstverständlich von «interessante Frauene». Bei der einen entdeckt er «ganz vill Probleme», bei einer anderen hat er «zwoi Gfühle» – mit ausgesprochenem e am Schluss! Im Dialekt!
Aber nicht nur das sogenannte Trash-TV wird von neuen «Pluralformene» geflutet, als wären sämtliche Grammatikdämme gebrochen. Immer mehr «Männers», «Frauene» und besonders «Chinderlis» reden von «Themene» oder «Lehrers», von «Büsis» oder «Chatzene». Oft reicht eine einzige Mehrzahlform gar nicht mehr aus – wie in diesem Beispiel hier.
«Jöbbers!» Der Umlaut ö, die Endung -er und die zusätzliche Endung -s machen aus «Job» einen Dreifachplural. Ein besonders schwerer Befall von Pluralitis, wie man den Hang zu neuen Mehrzahlformen scherzhaft bezeichnet.
Die unsichtbare Hand des Sprachwandels
Um die Pluralitis zu verstehen, lohnt sich ein Blick ins uralte Räderwerk des Sprachwandels. Seit Jahrhunderten schwächen sich im Deutschen ehemals starke Endungen bei Substantiven ab, die früher den grammatischen Fall sowie Ein- und Mehrzahl angezeigt haben. Die Mehrzahl von «Tag» zum Beispiel war im Althochdeutschen «taga», im Genitiv Plural «tago» – fast wie im Lateinischen. Diese starken Endungen wurden mit der Zeit auf ein simples e abgeschwächt (Tage).
Massnahmen gegen den Nullplural
Weil im Dialekt sogar dieses Endungs-e verschwand, fielen immer mehr Formen zum sogenannten Nullplural zusammen: Die Mehrzahl wurde identisch mit der Einzahl (äi Tag – zäh Tag, äi Ort – zäh Ort). Seit langem behilft man sich deshalb mit verschiedenen sprachlichen Mitteln, um die Mehrzahl wieder eindeutig zu machen. Eines davon ist der Umlaut (Hünd, Täg), ein anderes die Endung -er (Brätter, neuerdings auch Chinder).
Feminine Substantive mit der Endung -i bekamen die besondere Mehrzahlendung auf -ene (Chuchene, Taufene). Das s am Ende eines Wortes (Velos, Chätzlis) ist zwar als Pluralendung im Deutschen eher neu und stark vom Englischen inspiriert. Aber es ist die einfachste und fehlertoleranteste Art, eine Mehrzahl anzuzeigen.
Plural, Pluralia oder Pluräl?
Zugegeben: Aktuell läuft dieser altehrwürdige Sprachwandelprozess etwas aus dem Ruder. Die Endung -ene hat sich auf Substantive mit e-Endung ausgedehnt. So sind wir zu den «Frauene» und «Maskene» und «Datene» gekommen. Umlaute ersetzen ganz selbstverständlich Vokale, so dass wir heute nicht nur «Täg» und «Ört» haben, sondern auch «Kommentär» und eventuell sogar «Pluräl». Und das Plural-s hängt sich seit neustem sogar an «Meersäulis» und «Männers».
Sind wir sprachlich am Verblöden?
Mit Dummheit hat die Pluralfreudigkeit wenig zu tun, eher mit Nachlässigkeit. Vielleicht auch damit, dass in den Schulen weniger Orthografie und Grammatik gepaukt wird als früher. Und dass soziale Normen und Kontrollen an Kraft verloren haben.
Ein weiterer Grund ist, dass heute viele Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer mehrsprachig aufwachsen. Das macht sie sowohl toleranter gegenüber Varianten als auch unsicherer, welche Form in der Mundart korrekt wäre. Also greift man sicherheitshalber zu einer eindeutigen Form und hat dann zum Beispiel «zwoi Gfühle» oder mehrere «Jöbbers».
Und wer weiss: Vielleicht steckt hinter der Pluralitis mehr Sprachwitz und Kreativität, als man vermuten würde!
Nadia Zollinger und Markus Gasser streiten über die schönste Sprache der Welt. Easy heftig. Deine Fragen an mundart@srf.ch.
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