Rund 5.5 Millionen Menschen in der Schweiz dürfen im Herbst ihre Wahlzettel in die Urne werfen. Viele davon werden von diesem demokratischen Privileg keinen Gebrauch machen. Gleichzeitig darf über ein Drittel der ständigen Schweizer Wohnbevölkerung aufgrund verschiedener Faktoren, wie zum Beispiel Aufenthaltsstatus, Minderjährigkeit oder einer geistigen Behinderung , nicht an den eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober teilnehmen – obwohl viele von ihnen das gerne würden.
Warum Menschen nicht wählen
Aus der Forschung geht laut Isabelle Stadelmann-Steffen, Professorin für Vergleichende Politik an der Universität Bern, hervor, dass Menschen aus verschiedenen Gründen nicht an Wahlen teilnehmen.
Gewisse Hürden hielten manche Menschen vom Wählen ab. Zum Beispiel fehlendes Wissen darüber, wie man einen Wahlzettel überhaupt korrekt ausfüllt, oder die grundsätzliche Schwierigkeit, sich über ein Thema eine Meinung zu bilden.
Im Vergleich zur Partizipation an Abstimmungen ist es für viele Menschen relativ unwichtig, wer genau in der Regierung oder im Parlament sitzt.
Auch sei fehlende Motivation oder etwa die Auffassung, dass Politik nicht wichtig sei oder dass man als einzelne Person sowieso nichts bewirken könne, ein weiterer Grund, nicht an Wahlen zu partizipieren, so Stadelmann-Steffen.
Tiefe Wahlbeteiligung wegen Abstimmungen
Junge Menschen wählen mit Abstand am wenigsten. Der grösste Anteil wahlberechtigter, aber nicht wählender Menschen befindet sich laut einer Studie von Swiss Election Study (Selects) in den Altersgruppen der 18- bis 24-Jährigen und 25- bis 34-Jährigen. Bei den Wahlen 2019 beteiligten sich in beiden Altersgruppen lediglich 33 Prozent. Bei der Altersgruppe der 35- bis 44-Jährigen waren es immerhin 43 Prozent, die an die Urne gingen. Mit Abstand am meisten Gebrauch vom Wahlprivileg machte damals die Altersgruppe der 65- bis 75-Jährigen mit 62 Prozent.
Im Jahr 1919 fanden in der Schweiz die ersten Nationalratswahlen nach Proporzwahlrecht statt. In jenem Jahr nahmen insgesamt 80.4 Prozent der Wahlberechtigten an den eidgenössischen Wahlen teil. Das ist die bisher höchste Wahlbeteiligung in der Schweiz. Den Negativrekord in puncto Wahlbeteiligung erreichte die Schweiz 1995 mit einer Beteiligung von 42.2 Prozent.
Bei den letzten Wahlen 2019 gingen 45.1 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne. Das ist seit der Einführung des Proporzwahlrechts die drittschlechteste Wahlbeteiligung.
Eine niedrige Wahlbeteiligung lässt sich laut Politikprofessorin Stadelmann-Steffen unter anderem mit den regelmässigen Abstimmungen erklären. Angesichts der Möglichkeit, direkt über Sachfragen zu entscheiden und also Parlamentsentscheide zu korrigieren, weisen die Parlamentswahlen eine relativ geringe Wichtigkeit auf. «Im Vergleich zur Partizipation an Abstimmungen ist es für viele Menschen relativ unwichtig, wer genau in der Regierung oder im Parlament sitzt», erklärt die Politologin.
Menschen, die mitbestimmen dürfen, sind besser integriert
Ein Viertel der ständigen Schweizer Wohnbevölkerung besitzt das Schweizer Bürgerrecht nicht. Das heisst: Mitbestimmen auf Bundesebene ist für diese Personen nicht möglich. Auch wenn man in der Schweiz geboren wurde oder das ganze Leben bereits im Land verbracht hat.
Stadelmann-Steffen verweist auf eine Studie von Hainmüller et al., die aufzeige, dass Migrantinnen und Migranten hinsichtlich verschiedener Aspekte besser integriert seien, wenn sie das Bürgerrecht – und somit auch das Stimmrecht – erhalten hätten im Vergleich zu immigrierten Personen, die nicht eingebürgert sind.
Kandidierende mit «ausländischem» Namen benachteiligt
Bei den letzten Wahlen im Jahr 2019 wurde die grosse Kammer einer Verjüngungskur unterzogen. Das Durchschnittsalter aller gewählten Parlamentarier und Parlamentarierinnen lag nach den Wahlen bei 49 Jahren, wobei der jüngste Nationalrat 25 und der älteste 72 Jahre alt war. Dieser Schnitt hat sich natürlich während der laufenden Legislaturperiode wieder erhöht.
Allerdings veränderte sich das Alter der Ratsmitglieder in der Tendenz in den letzten 40 Jahren nicht markant. So jung wie das letzte gewählte Parlament war bis dato aber noch keines davor. Um ins Parlament gewählt zu werden, ist das Alter aber nicht unbedingt ein entscheidender Faktor.
Entscheidender ist beispielsweise der Familienname: Anna Ibrahimi-Meyer wird eher weniger gewählt als Anna Meyer. Dieser Sachverhalt basiert mittlerweile auf empirischen Befunden. «Es gibt gleich mehrere Mechanismen, die zu dieser Benachteiligung führen, die schlussendlich darauf beruhen, dass viele Menschen eher jemanden wählen, der zur sogenannten ‹in group› gehört, also ähnlich wie man selbst ist», sagt Stadelmann-Steffen.
Eine Studie von Lea Portmann und Nenad Stojanović zu den Wahlen im Jahr 2015 konnte aufzeigen, dass Kandidatinnen und Kandidaten mit «ausländischem» Namen gleich doppelt benachteiligt werden. Einerseits wurden sie häufiger von der Liste gestrichen als Kandidierende mit schweizerisch klingenden Nachnamen, andererseits wurden «Schweizer» Namen überdurchschnittlich häufig kumuliert und panaschiert.
Um dem entgegenzuwirken, so Stadelmann-Steffen, komme nicht zuletzt den Parteien eine wichtige Rolle zu. Denn die einzelnen Parteien könnten aus Sicht der Politologin ihrerseits proaktiv etwas dagegen tun und Personen mit ausländischen Namen bewusst auf gute Listenplätze setzen.
Sollen Versäumnisse sanktioniert werden?
Im Kanton Schaffhausen werden alle gebüsst, die nicht an Wahlen oder Abstimmungen teilnehmen. Die Geldstrafe von 6 Franken pro versäumten Urnengang führt aber auch in Schaffhausen bei Weitem nicht dazu, dass dort eine 100-prozentige Wahlbeteiligung erreicht wird. Laut Stadelmann-Steffen wäre es auch schwierig, ein wirksames Sanktionssystem für Wahlversäumnisse einzuführen.
Zum einen müsste die Strafe viel höher sein als in Schaffhausen, damit die monetären «Kosten» für den Einzelnen oder die Einzelne höher sind, als die Kosten, um an der Wahl teilzunehmen. Da stösst man aber laut der Politologin schnell auf Probleme wie die der sozialen Gerechtigkeit. Es wäre, so Stadelmann-Steffen, unfair, wenn die Reichen sich die Strafe leisten könnten, während die Ärmeren sozusagen gehen müssten, weil sie sich die Strafe nicht leisten könnten.
Sich informieren wird nur jemand, der auch eine minimale Motivation hat. Deshalb scheint es mir viel sinnvoller zu sein, genau diese Motivation zu fördern.
Zum anderen stehe im Hintergrund immer der Gedanke einer Erwartung an Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, dass diese mehr oder weniger informiert eine Entscheidung treffen. «Sich informieren wird aber nur jemand, der auch eine minimale Motivation hat. Deshalb scheint es mir viel sinnvoller zu sein, genau diese Motivation zu fördern», beteuert die Politologin der Universität Bern.