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Online-Bewertungen «Es wäre dumm, keine Bewertungen zu lesen»

Unter 4 Sternen geben sich die wenigsten zufrieden. Und damit sind nicht die Sterne auf der Fassade des Hauses, sondern die im Internet gemeint. Online-Bewertungen für Restaurants, Bars und Co. sind so populär wie nie. Eine gute Entwicklung, findet Wirtschaftspsychologe Christian Fichter.

Das passende Restaurant zu finden ist nicht unbedingt einfacher geworden. Kriterien bisher: Karte, Ambiente, Service.

Kriterien heute: Karte, Ambiente, Service UND: Was andere zu diesen Kriterien denken.

Dass Online-Bewertungen immer wichtiger werden, zeigen die Zahlen der Bewertungsplattform Tripadvisor. Wurden 2014 pro Jahr noch 200 Millionen Online-Bewertungen abgegeben, so waren es 2019 bereits 859 Millionen. Und auch wir Schweizerinnen und Schweizer scrollen uns fleissig durch die Sterne, wenn es darum geht das passende Hotel oder Produkt zu finden. So konsultieren 84% von uns Online-Bewertungen - geschrieben werden sie von fast jeder dritten Person (28%).

Wie sich die Online-Bewertungen auf unsere Risikobereitschaft und den Konsum allgemein auswirkt, erzählt Wirtschaftspsychologe Christian Fichter im Interview.

Zur Person

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Christian Fichter ist Wirtschaftspsychologe und forscht an der Kalaidos Fachhochschule in Zürich. Die Schwerpunkte seiner Forschung sind: Image, Konsumpsychologie und Politische Psychologie. Daneben befasst er sich mit Sozialpsychologie, Evolutionspsychologie und Arbeitspsychologie.

Herr Fichter, die Zahlen sind eindeutig, auch wir Schweizerinnen und Schweizer lieben es, Bewertungen zu lesen. Wieso?

Christian Fichter: Menschen sind soziale Lebewesen. Wir haben uns schon früher auf unsere Gruppe verlassen und uns Meinung von Familien und Freunden eingeholt. Und das machen wir auch, wenn wir konsumieren. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Online-Bewertungen so erfolgreich sind.

Sie sprechen davon, dass wir uns auf die Meinung von Familien und Freunden verlassen haben - bei Online-Bewertungen verlassen wir uns jedoch auf Meinungen von Fremden. Machen wir da keinen Unterschied?

Doch, wir machen sehr wohl einen Unterschied und deshalb gibt es auch das Phänomen, dass wir unterschiedlichen Online-Bewertungen auch unterschiedlich vertrauen. Das heisst, wenn ich beispielsweise bei einem Online-Shop etwas kaufen will, findet automatisch ein Diagnose-Prozess statt. Also man versucht, die Person hinter der Bewertung zu erfassen. Dies kann beispielsweise über das Pseudonym erfolgen, wenn nicht mehr User-Informationen vorhanden sind.

User «Hansruedi53» kennt sich wohl weniger mit der aktuellen Musik aus.
Autor: Christian Fichter Wirtschaftspsychologe

Können Sie ein konkretes Beispiel machen?

Sagen wir, ich möchte meinem Götti-Bub ein Geschenk machen und dieses soll aus dem Popmusik-Bereich kommen. Jetzt informiere ich mich, was da gerade angesagt ist und lese Online-Bewertungen. Sehe ich dann, dass ein Bewerter dieses Produktes den User-Namen «Hansruedi53» hat, ist die Vermutung, dass dieser User sich nicht wahnsinnig gut mit der Entwicklung der aktuellen Musik auskennt, relativ naheliegend. Je ähnlicher einem jedoch diese Person ist, desto mehr vertrauen wir auf deren Meinung.

Also sind Online-Bewertungen zu einem wichtigen Instrument in unserem Konsum-Verhalten geworden.

Absolut. Das gab es ja früher auch schon. Anstatt vom «Word-Of-Mouth», also Mund-zu-Mund-Propaganda, könnte man heute vom «Word-Of-Mouse» sprechen. Also von (Computer-)Maus zu (Computer-)Maus. Es passiert jedoch das Gleiche. Es geht um die Erfahrungen, die echte Konsumentinnen und Konsumenten mit einem Produkt oder einer Dienstleistung gemacht haben. Und diese Erfahrung ist viel wertvoller, als die Qualitätsprüfung, die wir vor dem Kauf machen (Hat das Produkt alles, was ich brauche? Passt es von den Massen her? etc. - Anm. d. Redaktion).

Anstatt vom «Word-Of-Mouth», also Mund-zu-Mund-Propaganda, könnte man heute vom «Word-Of-Mouse» sprechen.
Autor: Christian Fichter Wirtschaftspsychologe

Was treibt uns an, überhaupt Online-Bewertungen zu schreiben?

Hier sehen wir ein schönes Beispiel der angewandten Spiel-Theorie. Die besagt, das alles ein Spiel ist, bei dem sich die Konsumentinnen und Konsumenten beteiligen. Indem ich eine Bewertung abgebe, zahle ich ins Spiel ein, wobei ich später vom einbezahlten Sozialkapital profitieren kann. Auch wenn ich vielmals nicht direkt davon profitiere, weiss ich, dass es sinnvoll ist und darum bewerte ich ein Produkt oder eine Dienstleistung.

Also ein solidarischer Akt?

Wir Menschen sind solidarisch, ja. Natürlich ist es eher schwierig, wenn die Solidaritäts-Bekundung online stattfindet - ohne direkten Kontakt. Deshalb wird immer mehr versucht, einen Bezug zwischen den Menschen die Bewertungen schreiben und den Menschen, die Bewertungen lesen, herzustellen. Dass man beispielsweise auf der Produkteseite direkt Fragen stellen kann. Und zwar jenen Konsumentinnen und Konsumenten, die diese Erfahrungen schon gemacht haben.

Wir suchen nicht in erster Linie die positive Erfahrung, sondern viel wichtiger ist es, die negative Erfahrung zu verhindern.
Autor: Christian Fichter Wirtschaftspsychologe

Wir kennen wohl alle die Situation, bei der wir die Online-Bewertungen eines Restaurants lesen und wenn da nur eine schlechte darunter ist, werden wir bereits misstrauisch. Wieso?

Der Mensch hat die Neigung, negative Informationen höher zu gewichten, als positive. Die sogenannte Verlust-Aversion ist dafür zuständig. Das heisst, wir versuchen vor allem, negative Erfahrungen zu vermeiden. Wir suchen nicht in erster Linie die positive Erfahrung, sondern viel wichtiger ist es, die negative Erfahrung zu verhindern. Bei Online-Bewertungen kann es daher bedeuten, dass wir bei einigen schlechten Bewertungen effektiv ein anderes Restaurant aufsuchen.

Also wir bevorzugen eher das Mittelmass, aus Angst, eine negative Erfahrung zu machen? Auch wenn wir dabei eventuell etwas Grossartiges verpassen?

Genau. Und gerade im Bereich der Kulinarik ist das absolut rational und vernünftig. Ich will mir auf keinen Fall den Magen verderben oder einen schlechten Abend haben. Dann nehme ich lieber in kauf, dass meine Ravioli nicht die weltbesten sind.

Tönt so, als wären wir durch die Online-Bewertungen weniger risikofreudig geworden?

An der grundsätzlichen Risikofreude - oder besser gesagt der Neigung, ein Risiko zu verhindern - hat sich nichts geändert. Wir haben jedoch mächtigere Werkzeuge, um möglichst viele Risiken auszuschliessen. Und diese Werkzeuge nutzen wir natürlich.

Sie selber auch?

In drei Viertel der Fälle schon, ja. Im letzten Viertel habe ich bereits selber Erfahrungen mit Produkten oder Dienstleistungen gemacht und muss mich nicht mehr auf Bewertungen verlassen. Es wäre dumm und eine Geldverschwendung, wenn ich keine Online-Bewertungen lesen würde. Denn es ist erwiesen, dass die Leute dank Online-Bewertungen weniger Fehlkäufe machen, weil sie bereits auf die Erfahrungen anderer Konsumentinnen und Konsumenten zurückgreifen können. Fehlkäufe im Sinn von überteuerten Produkten, die nicht das halten, was sie versprechen.

Also tragen Online-Bewertungen einen beachtlichen Teil dazu bei, dass die Qualität besser wird?

Die Konsumentinnen und Konsumenten sind heutzutage besser informiert und lassen sich weniger für dumm verkaufen. Das heisst, wir durchschauen die Anbieter, die uns Schrott zu überteuerten Preisen verkaufen wollen. Selbst wenn sie dies unter einer bekannten Marke tun. Richtige Produkte-Fails, bei denen nur die Profitgier dahinter steckt, gibt es weniger. Auch wenn diese schön eingepackt sind, so erkennen wir dank Online-Bewertungen, dass nichts dahinter steckt. Und das erachte ich als Verbesserung der Lebensqualität von uns Konsumentinnen und Konsumenten.

Wie bewerte ich anständig?

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Nur, weil man seine Kritik nicht direkt im Hotel oder Restaurant anbringt, heisst das nicht, dass man im Internet seinen Emotionen freien Lauf lassen darf. Denn es kann durchaus vorkommen, dass man nach einer beleidigenden Bewertung Post von der Anwältin oder dem Anwalt kriegt.

SRF-Konsumredaktorin Maria Kressbach weiss, auf welche Punkte geachtet werden muss:

  • Am besten eigenen sich Ich-Botschaften. Also beispielsweise: «Auf mich wirkt das Hotel schmuddelig» und nicht «Das Hotel ist schmuddelig.» So vermeidet man die Verallgemeinerung, die zu einer Klage wegen übler Nachrede führen kann
  • Immer so konkret wie möglich kritisieren. Beispielsweise: «Im Zimmer und auf dem Gang hat es Flecken auf dem Teppich und die Wand hat Risse.» Natürlich müssen diese Fakten auch stimmen
  • Eine Möglichkeit, diese Fakten zu untermauern, sind Fotos. Wenn ich Beweisfotos des desolaten Zustandes habe, so kann ich der Anwaltskanzlei damit meine berechtigte Kritik beweisen
  • Persönliche Beleidigungen unbedingt unterlassen. Nicht schreiben: «Das Zimmermädchen mit der Fettfrisur und dem Pickelgesicht hat genau so schlampig gearbeitet, wie sie aussah.» Das ist Persönlichkeitsverletzung. Besser ist: «Die Hotelangestellte hat nicht sauber gearbeitet.»

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