Ich finde, die eine oder andere kleine Unvernunft macht das Leben schöner. «Nein», widerspricht mir Renato Kaiser . Mit einem langgezogenen «e». «Mou», antworte ich. Mit einem sehr langgezogenen «o», fast ein bisschen enttäuscht. Aber Renato Kaiser ist eben ein Freund der Selbstkontrolle. Den eben erst gewonnen Salzburger Stier , der renommierteste Preis für Kleinkunst im deutschsprachigen Raum, hat er also höchstens mit einem alkoholfreien Bier gefeiert.
«Als ich aufgehört habe zu trinken, habe ich auch aufgehört zu tanzen. Das ist traurig,» sagt er und bricht in schallendes Gelächter aus. Ohne Alkohol müsse man ganz neu lernen, mit seinen Hemmungen umzugehen.
Gelegenheitstrinker mit vielen Gelegenheiten
«Ich war Gelegenheitstrinker», erklärt Renato Kaiser nun ganz ernst, «aber ich hatte sehr viele Gelegenheiten». Drei bis vier Auftritte pro Woche, das hiess immer auch drei bis vier Mal einen über den Durst trinken. «Das Lustige ist: Die Menschen erwarten von mir, dass ich trinke. Weil ich ja Künstler bin. Und wenn ich verkatert ankomme, dann haben sie grosse Freude und bestärken mich.»
Im Herbst 2012 entschied er, all diese Menschen ab sofort zu enttäuschen. Mit einem alkoholfreien Jahr:
Ein Spassprojekt und gleichzeitig Herausforderung. Zuerst kamen die Entzugserscheinungen: Kopfschmerzen, Albträume. Erst nach ein paar Wochen ging es dann aufwärts.
Ich hatte mehr Energie, konnte besser schlafen, war geistig anwesender. Und ich habe fünf bis zehn Kilogramm abgenommen
Renato Kaiser merkte, dass gewisse Bekanntschaften ohne Alkohol nicht funktionieren, weil man sich nüchtern gar nichts zu sagen hat. «Man kann sich Menschen nicht schöntrinken - das ist ein Mythos. Aber man kann sich Menschen angenehm trinken. Menschen, die man uninteressant findet, erträgt man mit zwei, drei Bieren besser.»
Absurditäten des Alkohols
Aus einem Jahr wurden sieben. Heute beobachtet Renato Kaiser die beschwipste Gesellschaft mit nüchternem Blick und erkennt ziemlich viele Absurditäten. Zum Beispiel diese: «Man spricht mit Menschen über Gott und die Welt. Aber mit Gott und die Welt meint man eigentlich sich selbst. Je betrunkener man wird, desto mehr spricht man mit sich selbst. Aber das ist egal. Weil es beiden so geht. Keiner hört dem anderen wirklich zu und nach drei Stunden finden beide: «Läck, das war jetzt ein legendärer Abend!». Das Schöne daran ist: Niemand kann das Gegenteil beweisen.»
Ich habe meinen Alkoholismus mit Workaholismus ersetzt. Nun versuche ich, weniger zu arbeiten.
Der Realitäts-Check
Das Schwierigste am Alkoholverzicht aber sei, zu akzeptieren, dass vieles einfach sehr normal sei. «Nach Hause gehen ist plötzlich eine extrem attraktive Option. Das kannte ich vorher nicht. Deshalb blieb ich ja mit all diesen Menschen an fürchterlichen Orten, weil nach Hause gehen keine Option war.» Zuhause ein Buch lesen – das entspannt ihn jetzt. Wenn er liest, dann hält er manchmal inne und murmelt («wie ein Vollidiot») vor sich hin «Oh, das ist aber schön!». Renato Kaiser lacht und schiebt grinsend nach: «Weisst du, Lesen ist jetzt mein Tanzen.»
Mein persönliches Fazit
Nach dem Interview ist mir das eine oder andere Licht aufgegangen. Es ist ja wirklich absurd, wie wir manchmal aneinander vorbei reden, wenn Alkohol im Spiel ist. Und trotzdem bleibe ich dabei: Ein bisschen Unvernunft tut mir gut. Nicht zu viel. Einfach ein bisschen. Nur manchmal. Sonst würde ich mich wie eine Maschine fühlen. Und schlussendlich ist ein guter Wein doch nicht nur Rausch-, sondern auch Genussmittel. Und wie seht ihr das? Ich bin auf eure Meinung unten in den Kommentaren gespannt.
SRF Virus Moderator Livio Carlin hat für «Unzipped» einen Monat aufs Trinken verzichtet. Sein Selbstversuch: