In der Schweiz leben 2 Millionen Menschen ohne Schweizer Pass. Die Hälfte von ihnen erfüllt alle formalen Kriterien für eine Einbürgerung. Migrationsexperte Walter Leimgruber erklärt, warum viele Menschen diesen Schritt nicht machen.
SRF: Man liest immer wieder, der Schweizer Pass sei einer der «wertvollsten Pässe der Welt». Stimmt das?
Walter Leimgruber: Es gibt Rankings, die den Wert eines Passes ermitteln wollen. Sie berechnen, in wie viele Länder man damit ohne Visum einreisen kann. Da liegt die Schweiz seit Jahren auf einer Spitzenposition. Weit vorne sind aber aktuell auch Länder wie Japan, Singapur oder Südkorea. Das Gewicht verlagert sich nach Asien, da sieht man eine Tendenz in der Weltpolitik.
Wer einen Schweizer Pass haben will, muss lange warten und ein kompliziertes Verfahren durchlaufen. In anderen Ländern geht das schneller und einfacher. Warum?
Das hat mir unserer Mentalität und unserem politischen System zu tun. Wir sind eine eher beharrende, behäbige Gesellschaft. Menschen, die von aussen kommen, brauchen viel Energie und Zeit, bis sie akzeptiert werden. Und es hat mit dem Föderalismus zu tun. Bei uns sind die Gemeinden für die ordentliche Einbürgerung zuständig. Für sie ist es wichtig, darüber entscheiden zu dürfen, wer in einer Gemeinde leben und mitbestimmen darf und wer nicht.
Ist dieser Prozess der Grund, dass viele der Ausländer und Ausländerinnen, die in der Schweiz leben, den Pass nicht beantragen?
Das ist sicher ein wichtiger Grund. Gerade junge Menschen, die auch von der erleichterten Einbürgerung profitieren könnten, haben wenig Spass an bürokratischen Prozessen. Wir sehen aber auch, dass Personen aus Ländern, die der Schweiz ähnlich sind, sich nicht so häufig einbürgern lassen. Deutsche oder Franzosen haben nicht viel davon. Und es ist eine Frage des Geschlechts. In zwei Ländern Militärdienst leisten zu müssen, ist für viele Männer nicht nur ein reines Vergnügen.
In der Schweiz gibt es 2202 Gemeinden und folglich 2202 verschiedene Einbürgerungsverfahren. Droht da nicht die Willkür?
Willkür ist ein starkes Wort. Innerhalb einer Gemeinde sind die Verfahren wahrscheinlich schon einigermassen homogen. In der Nachbargemeinde können dann aber schon ganz andere Kriterien gelten. Von daher wird die Grundforderung der Gleichbehandlung nicht erfüllt.
Wie liesse sich eine solche Gleichbehandlung herstellen?
Durch Transparenz. Wir bräuchten statistische Grundlagen und müssten einen Ablauf definieren, wie der Einbürgerungsprozess aussehen soll und wie lange er dauern darf. Personen, die sich einbürgern lassen wollen, müsste man klar sagen, welche Anforderungen sie erfüllen müssen. Für mich steht fest: Sie brauchen ein Grundwissen darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Wann Buslinie X in der Gemeinde Y eingeführt wurde, ist keine solche Grundanforderung.
Der Pass ist heute Symbol für die Staatsbürgerschaft einer Person. Seit wann ist das so?
Das ist interessanterweise eine neuere Entwicklung. Pässe wurden ursprünglich als reine Reisedokumente ausgestellt. Das sieht man noch am Begriff «Passe-port». Das Dokument gab einem das Recht zur Ausreise, Durchreise oder Einreise. Damit wollte man gewisse Personen auch am Ausreisen hindern – zum Beispiel, um der Abwanderung von Arbeitskräften oder Steuerausfällen vorzubeugen. Und man wollte mit einem Pass sicherstellen, dass man an einem anderen Ort auf der Welt willkommen war. Dass der Pass gleichbedeutend mit einer Staatsbürgerschaft ist, ist ein Phänomen des modernen Nationalstaats seit dem 19. Jahrhundert.
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