Was bald verschwindet, zieht uns Menschen an. Das ist auch im Tourismus nicht anders. Menschen strömen an Orte, die durch Veränderungen in der Kultur, im Klima oder der Artenvielfalt bedroht sind. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen «Last Chance Tourism» genannt, also der Letze-Chance-Tourismus.
«Aus psychologischer Sicht steckt hinter diesem Phänomen eine Mischung aus Verlustangst, Nostalgie, Selbstverwirklichung und der Realisierung der eigenen Vergänglichkeit», sagt Cathérine Hartmann, Umwelt- und Nachhaltigkeitspsychologin der ZHAW.
Beispiele von «Letzte-Chance-Orten»
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Bild 1 von 6. Das Great Barrier Reef ist mehr als 2'300 Kilometer lang und Heimat von rund 4'000 Korallenarten. Im letzten Jahr hat es so viele Korallen verloren wie noch nie. Gemessen wird seit knapp 40 Jahren. Rund die Hälfte des Riffs ist schon ausgebleicht. Bildquelle: Keystone/EPA AAP/James Cook University.
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Bild 2 von 6. Über 120'000 Touristinnen und Touristen besuchen die Antarktis jährlich. Die meisten kommen mit dem Schiff. Die Kreuzfahrttouristen haben sich in den letzten 20 Jahren fast verzehnfacht. Bildquelle: Keystone/AP/Jorge Saenz.
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Bild 3 von 6. Venedig wird von Touristen regelrecht gestürmt. Dies führt zu Problemen bei der Infrastruktur der Stadt und zu Ärger bei den Einheimischen. Venedig ist seit Jahren von Überschwemmungen bedroht. Einer italienischen Studie zufolge wird Venedig bis 2150 unter Wasser liegen. Bildquelle: Keystone/EPA/Andrea Merola.
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Bild 4 von 6. Auch die Malediven sind vom steigenden Meeresspiegel bedroht. Dies zieht noch mehr Besuchende auf die ohnehin von Touristen überlaufenen Inseln. Bildquelle: Keystone/AP/Gemunu Amarasinghe.
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Bild 5 von 6. Die Himalaya-Region mit dem höchsten Berg der Welt, dem Mount Everest, leidet unter dem Übertourismus. Dieser belastet die Region genau so, wie die durch den Klimawandel zunehmenden Naturgefahren. Bildquelle: SRF.
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Bild 6 von 6. Auch in der Schweiz sind wir vom Letze-Chance-Tourismus betroffen. Jährlich schmelzen die Gletscher. Die Angst, sie irgendwann nicht mehr zu sehen, zieht Touristen aus aller Welt an. Bildquelle: SRF/Dani Helfenstein.
Der «Last Chance Tourism» sei vergleichbar mit der künstlichen Verknappung, die man aus der Werbung kenne. «Aus den sozialwissenschaftlichen Forschungen wissen wir, dass künstliche Verknappung ein starker Treiber für eine erhöhte Nachfrage ist», sagt Cathérine Hartmann.
Beim Gefühl, etwas nicht zu bekommen, handeln wir oft irrational.
Wenn dann berichtet werde, dass ein Ort bald verschwinden könne, ziehe das Massen an Touristen an - obwohl viele Reisende wüssten, dass sie mit ihrem Verhalten genau dieses Verschwinden beschleunigen.
«Beim Gefühl, etwas nicht zu bekommen, handeln wir oft irrational», erklärt Hartmann. «Last Chance Tourism» sei stark mit der «Fear of missing out», also der Angst, etwas zu verpassen, verknüpft. «Das ist ein starkes psychologisches Motiv, welches durch die Sozialen Medien verstärkt wird. Wenn andere an diese unfassbaren, einmaligen Orte fliegen, kann ich nicht einfach auf meinem Balkon sitzen bleiben.»
Social Media verstärkt den Letzte-Chance-Tourismus
«Erste Studien belegen, dass die sozialen Medien den ‹Last Chance Tourism› verstärken», sagt Judith Meilwes. Sie ist Schulleiterin an der Höheren Fachschule für Tourismus und Management in Samedan und beschäftigt sich mit Nachhaltigkeit und Veränderungen im Tourismus. «Vielen Reisenden geht es darum, anderen zu zeigen, dass man da war», sagt Meilwes. So werden andere inspiriert, ebenfalls an diese Orte zu reisen.
Durch Social Media entsteht ein Hype. Die Orte sollen Bucket-List-mässig abgehakt werden. Mit Nachhaltigkeit hat das nichts mehr zu tun.
Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass knapp 70 Prozent der Befragten Social Media als Reiseinspiration nutzen. Für die Schweiz sind ähnliche Zahlen zu erwarten. «Über Social Media werden Orte inszeniert und emotionalisiert. Dadurch entsteht ein Hype. Die Orte sollen Bucket-List-mässig abgehakt werden. Mit Nachhaltigkeit hat das nichts mehr zu tun», so Meilwes.
Typische Last-Chance-Destinationen sind das Great Barrier Reef in Australien oder die Antarktis. In der Schweiz sind vor allem die schmelzenden Gletscher betroffen.
«Das Problem beim ‹Last Chance Tourism› ist nicht der einzelne Tourist, sondern die Masse», sagt Judith Meilwes. «Wenn wir es mit sensiblen Ökosystemen wie den tropischen Regenwäldern zu tun haben, führt der Massentourismus zu starker Belastung, wie Trittschäden, Abfall und Störung der Tiere.»
Tourismus soll nachhaltiger werden
Das grösste Problem sei jedoch die Anreise. «Wer mit dem Flugzeug oder einem Kreuzfahrtschiff in die Polarregionen reist, verursacht einen hohen CO₂-Ausstoss und trägt damit zur Verstärkung des Klimawandels bei. Dieser wiederum beschleunigt das Abschmelzen der Eismassen in den Polargebieten.»
Die Destinationen seien durch den Tourismus bedroht, sagt Judith Meilwes. «Deshalb muss der Tourismus und das Reisen nachhaltig gestaltet werden.» Für das solle «Last Chance Tourism» auch nicht als solches vermarktet werden. Weiter gäbe es gute Nachhaltigkeitsprogramme, an denen sich viele Reiseveranstalter bereits beteiligen.