Dass das Wort «I» zu den prominentesten Wörtern in Hitparadensongs gehört, geht natürlich in Ordnung. Pop ist von Natur aus eine narzisstische Sportart. Vor dem «I» liegen nur noch die Worte «You» und «The». Ich würde aber ziemlich viel darauf verwetten, dass das «I» dem «You» in den nächsten Jahren den Rang abläuft. Wieso? Weil die «Asozialen Medien» den Musikerinnen und Musikern bestätigen, dass der Blick in die Selfie-Cam besser ankommt, als der Blick auf die Welt.
Die Sache mit der Brille
Schaut euch mal aktuelle Album-Covers an. Geht auf die Instagram-Accounts der Pop-Stars. Klickt auf Video-Clips. Ihr werdet viele Gesichter sehen. Mehr als auch schon. Natürlich wollen wir diese Gesichter. Wir brauchen Gesichter. Aber nicht nur Gesichter. Wenn wir nur noch Gesichter sehen, werden sie zu Fratzen.
Die Idee ist doch, die Welt(!) durch die Brille von anderen zu betrachten. Oder? Denn die Welt durch die Brille von anderen zu betrachten ist wesentlich spannender, als durch diese Brille, die Pupillen der Brillenträgen zu sehen. Oder nicht? Das Problem: Das Narzissten-Gewichse funktioniert kommerziell ziemlich gut. So reiten wir die Pop-Musik und deren Verpackung in eine erbärmlich stinkende Sackgasse, in welcher die eigentliche Kunst verkümmert und Inspiration und Progressivität zu Fremdwörtern werden.
Die schnelle Nummer zählt
Obwohl ich es für keine gute Idee halte, Musik zu machen, um möglichst erfolgreich zu sein – kann ich es niemandem verübeln, sich nach dem Markt zu richten. Auch darum geht und ging es in der Pop-Musik stets. Seit alles messbar ist, haben sich die Mechanismen auf der Suche nach Erfolg aber pervertiert und «erfolgreich» wird immer mehr zum Synonym für «gut» oder gar «wertvoll». Was zählt ist die schnelle Nummer.
Es geht darum seine Fans und potenzielle Follower innert Sekunden im Sack zu haben. Es geht ums sofortige Antörnen. Abschleppen. Einsacken. Absahnen. Klicks. Likes. Views. Nachliefern. Penetrieren.
Vorspiel? Fehlanzeige!
Der Pop wird zum Schlager
Ihr könnt mir glauben: Ich liebe Pop-Musik. Ich bin mir auch bewusst, dass mein heissgeliebter Pop ziemlich nah am Schlager gebaut hat. Meiner Pop-Musik war es aber stets wichtig, sich vom Schlager abzugrenzen. Sie flirtete zwar mit ihm. Ging mit ihm in schwierigen Momenten vielleicht sogar mal in die Kiste. Aber sie wachte immer wieder auf. Ging nach Hause. Hatte einen Kater. Kurierte sich. Entdeckte ihre Daseins-Berechtigung. Besann sich. Erschuf Kunst. Sie wollte ganz sicher nicht nüchtern vor dem Spiegel onanieren.
Benutzt die Front-Kamera
Ja ich mache mir Sorgen. Wir sind die Pop-Musik. Lasst den Selfie-Stick stecken. Lasst uns Stahlberger und King Pepe hören. Lasst es wirken. Benutzt die Frontkamera. Schätzt die Frontkamera der Künstlerinnen und Künstler. Lasst uns die Kurve kriegen – so, dass auch kommerzielle Pop-Musik weiterhin eine Kunstform und eine inspirierende Disziplin sein darf.
Wieso mir das so wichtig ist? Weil die frontale Pupillenansicht von Miley Cyrus & Co. auf die Dauer nicht bereichernd ist. Wir haben alle mehr verdient.
Und die gute Nachricht: Es ist da. Das Mehr. Es existiert. Es gibt sie. Die Musikerinnen und Musiker, die nicht die schnelle Nummer suchen. Sie sind da. Sie schreien euch vielleicht nicht gerade ihren potenziellen Hit ins Gesicht. Sie machen nicht jeden Tag einen neuen Instagram-Post mit dem immer selben Gesicht und der immer selben Pose.
Sie sind aber da. Sucht sie. Es ist nicht schwierig. Sie verstecken sich nicht. Sie drängen sich aber auch nicht auf. Und sie zwingen euch ganz sicher nicht dazu, ihre Musik zu hören.