Überforderung. So dürfte vielerorts die Reaktion gewesen sein, als Rosalia Vila Tobella – kurz: Rosalía – letzte Woche mit «Berghain» den ersten Vorgeschmack auf ihr viertes Album «LUX» veröffentlichte.
Seit ihrem vielbeachteten Flamenco-Neuanstrich «El mal querer» (2018) gehört die 33-Jährige zu den spannendsten Stimmen der Popwelt. Vier Jahre später stieg sie, stilisiert als Tech-Barbie und getrieben von Reggaeton-Sounds, mit «Motomami» (2022) vom Darling der Musikpresse zur internationalen Festival-Headlinerin auf. Und jetzt also «Berghain».
Dramatische Streicher! Operngesang! Ein Featuring von Björk! Überforderung.
Nun, für alle, denen «Berghain» zu viel ist: Die Vorabsingle bleibt der provokanteste Moment von «LUX». Trotzdem hätte die nach dem Berliner Techno-Wallfahrtsort benannte Single keine bessere Vorwarnung für Rosalías nächste 180-Grad-Wendung sein können. Denn «LUX» ist – Überraschung? – tatsächlich ein Klassikalbum geworden.
Klassik auf Konfrontationskurs
Den Streichern begegnet man hier auf jedem Song, dazu kommen andächtige Chöre. Zudem ist das Album – ganz im Stile der grossen Meister – in vier «Movements» aufgeteilt und weiss, innerhalb von Sekundenbruchteilen zwischen bombastischem Kitsch und andächtigen Requien, ideal für Kerzenlicht in Klöstern, hin und her zu wechseln.
Das ist aufregend, stellenweise unerhört und dürfte besonders jene, die die Katalanin mit «Motomami» kennen gelernt haben, bewusst vor den Kopf stossen. Emotionen, die zeitgenössische Blockbuster-Alben nur noch selten auslösen.
Stimm- und Sprachwunder
Ihr viertes Album hat Rosalía voll und ganz als Bühne für ihre Stimmgewalt konzipiert. Jeder Song arbeitet darauf hin, dass sich die 33-Jährige als moderne Popklassik-Diva auszeichnen darf. Schwingen hier sogar die Geister von Caballé und Pavarotti mit?
Denn egal, ob Einlaufmusik für Neuzeit-Gladiatoren («Mundo Nuevo»), herzzerreissende Balladen («La Perla») oder unanständig himmlische Crescendi («Porcelana») – sollte Barcelona wieder einmal Olympische Spiele ausrichten wollen, Rosalías Bewerbung für den Titelsong dürfte unmöglich zu schlagen sein.
«LUX» zeigt Rosalía aber auch als Sprachwunder. Auf den 15 Songs ist ihre Stimme in 13 (!) verschiedenen Sprachen zu hören – neben Spanisch begegnet man u. a. Italienisch («Mio Cristo»), Japanisch, Arabisch oder Sprachfetzen in Ukrainisch.
Wie weiter?
Statt – wie erwartet – ihre Fahne tiefer in den Mittelpunkt der globalen Popwelt zu rammen, hat Rosalía mit «LUX» also ihre eigene, völlig neue Karte entworfen.
Ob diese erneute Chamäleon-Prozedur Nachahmende finden wird? Unklar. Und ob Rosalía selbst auf dieser Neuerfindung aufbauen, oder sich stattdessen in ihr Schneckenhaus zurückziehen und erneut eine unvorhersehbare Metamorphose durchlaufen wird, steht ebenso in den Sternen.