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«Platzspitzbaby» Endlich gibt es Zürichs dunkelstes Kapitel als Kinofilm

Zürich war vor nicht all zu langer Zeit noch einer der absoluten Hotspots des offenen Drogenkonsums. Mit «Platzspitzbaby» kommt nun ein beeindruckendes Zeugnis ins Kino – endlich, mag man sagen. Der Film ist eine Wucht.

Es scheint, als gäbe es von Zürich dieses eine vorherrschende Bild: Das einer herausgeputzten Bankenstadt, in der die zwinglianische Zurückhaltung das erstrebenswerte Lebensgefühl ist. Das einer Postkartenidylle, die einmal im Jahr, zur Streetparade nämlich, ein wenig gestört wird.

Aber keine Angst – schon am Sonntag, nachdem die letzten Partywütigen aus aller Welt wieder das Weite gesucht oder sich in Keller-Clubs verschanzt haben, ist Zürich wieder blitzblank , die Männer und Frauen in Orange haben die Stadt saubergefegt und man könnte sprichwörtlich von der Strasse essen.

Das grosse Elend

Selbst als Zürcher, der die 90er-Jahre als Kind miterlebt hat, ist es schwierig, sich vorzustellen, dass diese Stadt mal Synonym für einen dreckigen Drogenmoloch war. Der «Needle Park» beim Zürcher Hauptbahnhof und später der Letten etwas weiter die Limmat herunter waren Treffpunkt für die riesige, offene Heroin-Szene Europas, nur wenige hundert Meter weit von Bahnhofstrasse und Paradeplatz entfernt.

Das grosse Elend war Ende der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre Zürichs Realität. Und man sollte es sich stets vor Augen halten – vor allem, weil es gerade in der Schweiz noch hundert Menschen gibt, die direkt oder indirekt davon betroffen sind.

Junkies treffen sich auf dem Zürcher Platzspitz.
Legende: Das grosse Elend Die Drogensüchtigen trafen sich zwischen 1986 und 1992 auf dem Zürcher Platzspitz. SRF

Schauspielerische Glanzstücke

Eine davon ist Michelle Halbheer , bekannt wurde sie durch ihre Autobiografie «Platzspitzbaby», die Regisseur Pierre Monnard («Wilder») nun verfilmt hat. Darin erzählt sie von ihrer Kindheit als Tochter einer Heroinsüchtigen in Zürich, die vor allem auf dem Platzspitz beim Landesmuseum verkehrte.

Das Buch wurde zum Bestseller. Der Film, der nur an das Romanoriginal angelehnt ist, steht der Buchvorlage in Sachen Eindrücklichkeit in nichts nach. Im Gegenteil: Er zeigt die Dramatik der Geschichte mit eindrücklichen Bildern.

Mia (Luna Mwezi) und ihre Mutter Sandrine (Sarah Spale) in der Küche ihrer Wohnung im Zürcher Oberland.
Legende: Kein Zuhause Mia (Luna Mwezi) und ihre Mutter Sandrine (Sarah Spale) in der Küche ihrer Wohnung im Zürcher Oberland. Ascot Elite Entertainment

Beide Protagonistinnen liefern schauspielerische Glanzleistungen: Da ist zuerst die junge Mutter Sandrine, gespielt von Sarah Spale, die Regisseur Monnard bereits aus der SRF-Serie «Wilder» bestens kennt. Sandrine entschliesst sich nach der Schliessung des Platzspitz', mit ihrer Tochter Mia ins Zürcher Oberland zu ziehen, auch, um dem jungen Mädchen ein «besseres» Umfeld bieten zu können.

Aber Fehlanzeige. Sandrine kommt nicht von den Drogen weg, nimmt ihre Mia immer wieder auf Trips in die Stadt mit, wo die Mutter sich bei Dealern ihren Stoff beschafft – Bilder, so authentisch und brutal, dass sie für den Zuschauer nur schwer zu ertragen sind.

Löwenmutter und Junkie

Sarah Spale schafft den beeindruckenden Spagat zwischen Löwenmutter, die sich immer wieder schützend vor ihre Tochter werfen will und furchtbar anzusehendem Junkie. Sie ist abgemagert, eingefallen und vor allem unheimlich aggressiv und fahrlässig , auch ihrer Tochter gegenüber.

Obwohl ich als Zuschauer keinen grösseren Wunsch habe, als, dass Sandrine ihre Sucht in den Griff bekommt und der kleinen Familie ein gutes Leben bieten kann (und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt), weiss ich mit zunehmender Dauer des Films: Die Drogen werden immer stärker sein. Sogar stärker als die Liebe zum eigenen Kind.

Sandrine will ihrer Tochter ein normales Leben bieten können – schafft das aber nur selten.
Legende: Zwischen Mutterliebe und Sucht Sandrine will ihrer Tochter ein normales Leben bieten können – schafft das aber nur selten. Ascot Elite Entertainment

Die Wucht von Luna Mwezi

Die 11-jährige Mia entwickelt derweil ihre eigenen Strategien, um das Drogenelend ihrer Mutter auszublenden – beispielsweise mittels imaginärem Sänger-Freund, mit dem sie bezeichnenderweise immer wieder den Song «Sloop John B» von den Beach Boys anstimmt, in dem es heisst:

Let me go home, let me go home I want to go home, yeah yeah well I feel so broke up I want to go home.
Autor: Beach Boys Textzeile aus dem Song «Sloop John B»
Mia mit ihrem imaginären Freund.
Legende: Singen hilft Mia mit ihrem imaginären Freund. Ascot Elite Entertainment

Die Suche nach einem Zuhause ist Mias grosse Aufgabe , die sich durch den ganzen Film zieht. Ist «Zuhause» bei Mutter Sandrine, die ihr aber eigentlich gar kein solches bieten kann? Ist es bei ihrem leiblichen Vater, dem wir immer mal wieder begegnen – der aber auch nicht unbedingt den Anschein macht, dem jungen Mädchen ein gesundes Zuhause bieten zu können? Oder ist es schliesslich doch die Jugendbande um die grossartig spielende Lola (Anouk Petri), die sich rührend um Mia kümmert?

Mia weiss es wohl selbst nie so recht – und genau diese Zerissenheit spielt Luna Mwezi auf beeindruckende Art und Weise. Natürlich ist es noch zu früh, um zu sagen, ob aus Mwezi der nächste grosse Nachwuchsstar wird – die Voraussetzungen hat sie allemal.

Lola (Anouk Petri) nimmt sich Mia rührend an.
Legende: Neue Familie Lola (Anouk Petri) nimmt sich Mia rührend an. Ascot Elite Entertainment

Das Warten hat sich gelohnt

«Platzspitzbaby» ist eine Bombe von Film – er ist bedrückend, aufwühlend, Hoffnung erweckend und dann wieder niederschmetternd. Er lebt von der Dunkelheit, die Regisseur Monnard im Zürich der 90er-Jahre zeigt– vor allem aber von Sarah Spale und Luna Mwezi, die sich beide als absoluter Glücksgriff herausstellen.

Letztere ist es, die die Geschichte von hunderten von «Platzspitzbabys» zu erzählen vermag, die es noch immer gibt und noch lange geben wird – und die, genau wie Mia oder ihre Romanvorlage Michelle Halbheer mit den Traumata dieser Zeit leben müssen. Umso lobenswerter ist es, dass die Produktionsfirma das Release des Films zum Anlass genommen und umfassendes Info-Material für Schulklassen zur Verfügung gestellt hat.

Es ist schwierig, etwas zu finden, das man an Monnards Film aussetzen könnte. Vielmehr möchte man fast schon bedauernd fragen: Wieso hat es so lange gedauert, bis sich endlich ein Regisseur als dieses gewaltige Thema herangetraut hat? Das Warten hat sich jedenfalls gelohnt.

Die SRG hat «Platzspitzbaby» koproduziert. Der Film läuft ab dem Donnerstag, 16. Januar 2020 in der Deutschschweiz im Kino.

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