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Antisemitismus in der Schweiz «Man wird beleidigt, darf es aber nicht sein»

Viele Schweizer Jüdinnen und Juden möchten nicht öffentlich über Antisemitismus reden – aus Angst vor Beschimpfungen, Drohungen oder Angriffen. Andere brechen jetzt erst recht ihr Schweigen und berichten vom grassierenden Judenhass.

«Hitler hat seine Arbeit nicht zu Ende gemacht.» Solche Sätze fielen immer wieder bei Fussballspielen der Junioren des FC Hakoah, sagt Sam Friedman, Co-Präsident des Vereins.

Der FC Hakoah, 1922 gegründet, ist der grösste jüdische Fussballclub in der Schweiz. Antisemitismus habe im Sport nichts verloren, so Friedman – aber er sei eine Realität und habe zugenommen. Nicht nur auf dem Fussballplatz, sondern generell. 

«Jüdinnen und Juden erfahren Antisemitismus direkter: von Beschimpfungen über schwere Tätlichkeiten bis hin zu einem Tötungsversuch», stellt der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) in seinem Antisemitismusbericht 2024 fest. Das Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen und die Sicherheitslage jüdischer Einrichtungen hätten sich deutlich verschlechtert.

Es besteht Handlungs- und Nachholbedarf.
Autor: Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG)

Das Fazit des SIG: «Der Antisemitismus in der Schweiz verfestigt sich auf einem beispiellos hohen Niveau.» Die Gesellschaft und die Politik seien verpflichtet, die Sicherheit jüdischen Lebens in der Schweiz zu gewährleisten. «Es besteht nicht nur Handlungs-, sondern ein klarer Nachholbedarf.»

Ein Mann mit Brille steht vor dem KZ in Auschwitz.
Legende: Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), auf dem Gelände des früheren KZ Auschwitz. SRF

Es ist nicht einfach, Jüdinnen und Juden zu finden, die im Moment öffentlich über ihre Erfahrungen mit Judenhass sprechen. Zu gross ist bei vielen die Angst, dadurch auf das Radar von Antisemiten zu geraten. Gabriel Gutmann, Co-Leiter eines Heimes für jüdische Beeinträchtigte, lässt sich indes nicht einschüchtern.

Ich höre heute wieder ‹Heil Hitler› und ‹Saujude›.
Autor: Gabriel Gutmann Co-Leiter Heim Beth Chana

Er besucht regelmässig die Synagoge, um dort zu beten. «Als ich kürzlich nach dem Gebet die Synagoge verliess, wurde ich blöd angesprochen», erzählt er. «Heil Hitler» habe man zu ihm gesagt und ihn einen «Saujuden» genannt. Als er solche Beschimpfungen zum letzten Mal gehört habe, sei er in die vierte Klasse gegangen. Und jetzt plötzlich wieder. Er habe ein komisches Gefühl bekommen und sich gefragt, ob sich die Geschichte wiederhole. Und: «An welchem Punkt der Geschichte sind wir?»

Höhepunkt des Online-Antisemitismus: der 7. Oktober 2023

Ausgelöst wurde die beispiellose Antisemitismuswelle, die ganz Europa erfasst hat, durch die Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober 2023 und den anschliessenden Krieg in Gaza. Wobei der Höhepunkt des weltweiten Online-Antisemitismus am 7. Oktober 2023 gemessen wurde, als Israel angegriffen wurde, noch vor Beginn des Krieges in Gaza.

Der Trigger von Oktober 2023 habe allerdings über das ganze Jahr 2024 Wirkung entfaltet, stellt der SIG fest: «Vor allem bei den Beschimpfungen und den Aussagen zeigt sich das markant anhaltende Narrativ, dass die Schweizer Jüdinnen und Juden für den Krieg, die Handlungen und die Politik Israels verantwortlich seien.» Dazu gehöre auch die Forderung, dass sich Jüdinnen und Juden für diese Politik rechtfertigen oder davon distanzieren müssten.

Was wir machen, ist immer falsch.
Autor: Wera Meyer Ehemalige Büroangestellte

2024 hat der Judenhass in der Schweiz einen besorgniserregenden Höchststand erreicht, ein neues Phänomen ist es allerdings nicht. Wera Meyer, Jahrgang 1941, erinnert sich noch gut daran, wie sie schon während ihrer Schulzeit in der Stadt Zürich als «Saujüdin» beschimpft wurde.

Der Lehrer habe danebengestanden und gelacht. «Dass einem die Leute Beleidigungen ins Gesicht werfen oder vor einem schlecht über Juden reden, daran hat sich nichts geändert», sagt sie. «Jetzt ist es einfach hemmungslos.» Ihre Erfahrung sei während ihres ganzen Lebens gewesen: «Egal, was wir machen, es ist einfach immer falsch.»

Klischees halten sich hartnäckig

Wera Meyer ist die Mutter von Thomas Meyer, dem bekannten Schriftsteller. Auch er sagt, der Antisemitismus habe ihn seit jeher begleitet. Man habe gleich gedacht, dass er Jude sei: Wegen seiner Nase – das habe er zum Beispiel immer wieder gehört.

Wenn er dann antworte, das sei jetzt wirklich ein antisemitisches Klischee, dann heisse es, er irre sich. Oder: Doch, Juden hätten eine grosse Nase. Oder: Er sei überempfindlich oder rechthaberisch. «Ich habe deswegen mehr als eine Freundschaft abbrechen müssen», sagt Meyer, «das Ganze macht einen hilflos, weil man weiss, dass man nichts dagegen unternehmen kann.»

2025: Genau 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach der Befreiung des KZ Auschwitz. «#WeRemember – Wir erinnern uns» wurde aus diesem Anlass Anfang Jahr auf das Bundeshaus projiziert. Und gleichzeitig rekordhohe Zahlen betreffend Antisemitismus.

Beleuchtetes Gebäude bei Nacht mit '#WeRemember'-Projektion auf der Fassade.
Legende: Das Bundeshaus wurde am 27. Januar 2025 mit «#WeRemember» angestrahlt. SRF

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG, sagt: «Man dachte, die Leute hätten aus der Vergangenheit gelernt, dass man wisse, wohin Antisemitismus führen kann.» Und trotzdem diese Welle des Judenhasses. «Das sind keine guten Nachrichten.»

Hätten sie nicht überlebt, hätte es mich gar nie gegeben.
Autor: Jonathan Kreutner Generalsekretär des SIG

Kreutners eigene Familiengeschichte ist stark geprägt durch Antisemitismus. Seine Grosseltern flüchteten 1938 vor den Nazis in die Schweiz. Seine Grossmutter, Ida Kreutner, berichtete 1997 in einem Interview unter Tränen, wie sie damals versuchte, den Rhein zu überqueren, und von drei Grenzwächtern gestoppt wurde, den Sohn, noch ein Baby, auf dem Arm.

Das Baby von damals hiess Robert und hatte später ebenfalls einen Sohn: Jonathan Kreutner. Der steht Jahrzehnte später an der Stelle des Rheins, an der seine Grosseltern damals in die Schweiz gelangten, und sagt: «Hier ist der Ursprung meiner Existenz – hätten sie nicht überlebt, hätte es mich gar nie gegeben.»

Lasst euch nicht einschüchtern.
Autor: Jonathan Kreutner Generalsekretär des SIG

Inzwischen hat auch Jonathan Kreutner zwei Kinder. «Man darf sich nicht verstecken, das ist ganz wichtig», sagt er bei einem Ausflug mit seiner Familie.

«Wenn wir anfangen, unser Leben nicht mehr so zu leben, wie wir es uns gewohnt sind, wenn wir keine jüdischen Schulen oder Kitas mehr besuchen oder nicht mehr in die Synagoge gehen an Feiertagen, weil wir Angst haben, dann haben all jene, die uns Böses wollen, ihr Ziel erreicht.» Solange er seinen Kindern etwas mitgeben könne, sei es dies: «Lasst euch nicht einschüchtern.»

SRF 1, DOK, 22.5.2025, 20 Uhr;liea

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