Vier Uhr morgens in der Britanniahütte oberhalb Saas-Fee. Die Magie des anbrechenden Tagens begleitet uns. Vollkommene Stille.
Dieser Moment ist für mich einer der schönsten, wenn es zum Gipfel hinauf geht. Wir gehen in Richtung Gletscher und umgehen einige Spalten.
Das Gehen auf dem sanft ansteigenden Gletscher ist recht gemütlich. Der Seilzug von Ralf Weber, meinem Bergführer, der vor mir geht, in etwa anderthalb bis zwei Meter Abstand. So kann ich ihn gut hören. Auch das Geräusch seiner Steigeisen verrät mir die Richtung. Und Delia Bless, meine Freundin und Kletterpartnerin, leitet mich in heiklen Passagen.
Wie funktioniert blindes Bergsteigen?
In den Bergen bin ich komplett auf sehende Hilfe angewiesen. Da nützt mir der weisse Stock nichts. Da übernehmen die Augen von Bergführer Ralf Weber und Freundin Delia Bless diese Funktion.
Delia und ich kennen uns seit unserer Kindheit. Sie ist mein Guide beim Sportklettern und lotst mich sicher durch die Griffe an den Kletterwänden in der Halle.
Wir haben auch schon Wanderabenteuer zusammen erlebt. Sich gemeinsam zu finden, ist für Bergtouren der Schlüssel zum Gelingen. Meinen Bergführer Ralf habe ich beim Skitouren gehen kennengelernt. Die Chemie stimmt.
Die Kommunikation während der Tour
Wichtig ist: Weniger Informationen sind mehr. Ich halte mich am Rucksack der vor mir hergehenden Person fest. Eine Schlaufe am Rucksack oder ein eingesteckter Pickel im Rucksack genügen. Die Schlaufe zeigt durch ihre Bewegung an, ob es hoch oder runter, nach links oder rechts geht.
So erhalte ich ein Gefühl dafür, wie sich der Weg schlängelt, wie die Neigung des Geländes ist oder wie hoch ich meine Füsse für die nächste Stufe heben muss. Die Zehenspitze stösst an einen kleinen Felsvorsprung, also weiter hoch. Blockfelder oder Geröllpassagen sind eine ganz schöne Herausforderung.
Der Rucksack gibt mir zwar an, wie hoch oder wie tief der nächste Tritt ist, doch hier ist mündliche Kommunikation wichtig: «Achtung, bei der nächsten Stufe wackelt es» oder «Geh kurz auf die Knie und rutsche hinunter, das ist sicherer, denn der untere Stein wackelt.»
Der Fuss senkt sich auf einen Felsblock. Das schwankt zu sehr. Also den Fuss nach links oder rechts drehen, um auszugleichen. Ganz schön kompliziert, diese Vorgänge, die in Sekundenbruchteilen im Gehirn vor sich gehen. Denn als blinde Person beträgt dein taktiler Wahrnehmungsradius gerade so viel, wie dein Arm lang ist, oder wie lang dein Fuss ist.
Herausforderung Felsgrat
Sich auf einem Felsgrat zu bewegen, ist herausfordernd. Links und rechts hörst du nichts, nur «Leere». Der Wind kommt von beiden Seiten. Du hast keinen Anhaltspunkt, wann oder wo es hinuntergeht.
Hier sind genaue mündliche Anweisungen und langsames Fortbewegen der Schlüssel. Das Gehirn ist permanent gefordert: So muss es die eigene Balance beim Gehen, die Bewegungen, sowie die mündlichen Anweisungen der voran gehenden Person verarbeiten. Mental ist das Bergsteigen eine echte Herausforderung, aber auch ein Training.
Das Steilstück auf der Tour
Als es steiler wird, kommt das Kommando: «Jetzt wird es steiler, am besten Frontzacken benutzen.» Das ist ein gutes Kommando. Mental jedoch anstrengend, da ich das Ende des Gletschers bzw. des steilen Stücks nicht ausmachen kann.
Somit weiss ich nicht, wie viel Energie ich da investieren soll bzw. muss. Angaben wie «noch 100 Meter Aufstieg in dieser Steilheit», geben hier Anhaltspunkte. Und sonst, einfach kurz eine mentale Pause.
Ich sehe, was ich höre
Es ist herrlich, auf einem Grat hoch über dem Tal entlangzukraxeln, die Sonne auf der Haut zu spüren, den Wind, die klare Luft zu atmen, Dohlenrufe oder Schaf- und Rinderglocken auf einer benachbarten Alp zu hören. Oder es taucht weiches Moos unter den Fingern auf und wandelt sich irgendwann in kleine Flechten um, die die Felsen beziehen.
Weit weg das Rauschen eines Wasserfalls. Es tauchen immer wieder Überraschungen entlang des Weges auf. Es riecht nach Thymian oder anderen Alpenkräutern, plötzlich ist das Echo einer überhängenden Felswand mittels Klicklauten zu hören. Die Klicklaute, die ich mit dem Mund mache, transportieren ein Echo. Dieses vermittelt mir ein räumliches Vorstellungsvermögen, ähnlich wie ein Echolot.
Die Steine auf dem Weg klingen anders, wenn die vor mir gehende Person darauf tritt. Der magische Moment, wenn es noch dunkel ist, der Tag aber grad anbricht.
Diese Stille auf den Gletschern, der Wind, der auf dem Gletscher übers Eis streicht und über die Grate pfeift und jedes andere Geräusch auslöschen kann.
Felskletterei am Limit
Die Kletterei mit Steigeisen kurz vor dem Gipfel des Allalinhorns verlangt nochmals volle Konzentration. Steigeisen auf Schnee sind zwar gut, aber auf dem Felsen fehlt mir jegliche Referenz zur Struktur des Gesteins. So muss halt die Hand herhalten, um Stufen zu ertasten. «Achtung, aber rechtzeitig wegziehen, damit ich den Fuss nicht draufstelle», denke ich.
Und, nur so nebenbei: das Geräusch der Steigeisen auf Felsen ist sehr unangenehm im Ohr. Dieses Quietschen und Scharren beim Suchen.
Ich höre Delias Stimme von unten, die mir auch Anweisungen gibt. Und, Stück für Stück geht’s in Richtung Gipfelgrat. Anweisungen von unten sind hier wichtig, da ich sonst sehr viel Zeit mit Suchen der Tritte verbringe.
Auf dem Gipfel, 4023 Meter über Meer
Der Wind fegt nun mit voller Wucht über den Gipfel des Allalinhorns, als wir diesen um etwa 10 Uhr erreichen. «Oh, ich bin grad etwas erledigt», ist alles, was ich Moment aus mir herausbekomme.
Das Allalinhorn ist erklommen! Eine grossartige Team-Leistung. Klar habe ich als blinde Bergsteigerin den Gipfel geschafft. Aber dies wäre ohne Unterstützung nicht möglich gewesen. Deshalb zählt für mich immer die Leistung aller Beteiligten, denn sie tragen wesentlich zum Gelingen bei.