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«Wer eine Seele rettet, rettet die ganze Welt»
Aus DOK vom 28.08.2014.
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SRF DOK «Carl Lutz führte die Nazi-Hierarchie hinters Licht»

Er war schüchtern und bot dem Nazi-Regime die Stirn. Er war fromm und lebte zeitweilig eine Ménage-à-trois. Carl Lutz war ein Mensch mit Widersprüchen, der zu einer brandgefährlichen Zeit das Richtige tat. Mehr als 50'000 Juden verdanken ihm ihr Leben. Ein Interview mit Filmer Daniel von Aarburg.

SRF DOK: Wie erklären Sie sich, dass Carl Lutz zum Menschenretter werden konnte?

Der vergessene Held

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Als zweiter Mann der Schweizer Botschaft in Budapest rettet der Appenzeller Diplomat Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende von verfolgten ungarischen Jüdinnen und Juden vor dem sicheren Tod. Lutz erfindet in Eigenintiative ein Schutzbriefsystem, das die Menschen unter diplomatischen Schutz der Schweiz stellt.

Daniel von Aarburg: Das ist die grosse, unerklärbare, spannende Frage, wenn man sich mit Carl Lutz beschäftigt. Wie kann ein Mann, der wegen seiner Schüchternheit eine Ausbildung zum Pfarrer abrechen musste, mit der obersten Nazi-Hierarchie einen derartigen Deal über jüdisches Leben aushandeln und dazu noch Kopf und Kragen riskieren, indem er Eichmann und Konsorten bauernschlau hinters Licht zu führen versuchte? Ich kann es mir nur mit seiner Frömmigkeit erklären, die ihm den moralischen Kompass geliefert und im entscheidenden Moment seines Lebens den entsprechenden Mut gegeben hat, seinem Gewissen zu folgen und in einem einzigartigen Akt von Zivilcourage nicht bloss sein diplomatischen Pflichtenheft zu erfüllen. Carl Lutz war ausserdem ein Humanist und Menschenfreund, er liebte die Vielfältigkeit der menschlichen Existenz. In seinen Fotos und Filmen hat er diese richtiggehend gefeiert.

Lutz lebte teilweise mit zwei Frauen zusammen. Wie kam es zu dieser Konstellation?

Carl Lutz war ein sehr frommer Mensch und durch seinen rigiden methodistischen Hintergrund wohl ziemlich körper- und lustfeindlich geprägt. Das Gegenteil eines leichtlebigen Playboys also. In die Liebesgeschichte mit der Jüdin Magda Grausz und die zeitweilige Ménage-à-trois ist er wohl eher contrecoeur reingerutscht und hat deswegen sicher auch starke Schuldgefühle gehabt. Gegenüber Gertrud, seiner ersten Frau, die ihm gegenüber bis zu ihrem Tod sehr loyal geblieben ist, aber wohl auch gegenüber seinem eigenen religiösen Selbstverständnis, das Scheidung als Sünde taxiert. Aber am Ende liessen sich seine Gefühle gegenüber der schönen Budapester Jüdin und ihrer kleinen Tochter Agnes Hirschi wohl nicht mehr verstecken, und er hat dann sehr konsequent durch Scheidung und neue Heirat die Beziehung zu Magda legalisiert.

Wie reagierte Lutz' Umfeld auf die Scheidung?

Es war natürlich ein Affront, ein absoluter Fauxpas in der damaligen Zeit, den wohl niemand so richtig verstand. Gertrud, seine erste Frau, hat den Kontakt zu Lutz aufs Minimum reduziert. Erst nach Magdas Tod Ende der Sechziger Jahre kam wieder ein regelmässiger Kontakt zustande, vor allem via Agnes Hirschi, Lutz’ Stieftochter. Auch sein methodistisches Umfeld, die eigene Familie inbegriffen, war natürlich vom «Sündenfall» Scheidung und neue Heirat nicht gerade begeistert. Dazu kam, dass er mit Magda eine Fremde aus den Gefilden des unter Sowjetherrschaft stehenden Warschauer Paktes in die Schweiz importierte. Für einen westlichen Diplomaten damals auch beruflich eine eher problematische und keinesfalls karrierefördernde Beziehung.

Zum Autor

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Daniel von Aarburg arbeitet als Redaktor, Produzent und Autor auf der Kulturredaktion des Schweizer Fernsehens. Seit 2000 ist er freischaffender Filmemacher.

Ihr Film «Carl Lutz – Der vergessene Held» feierte im Juni dieses Jahres in Budapest Weltpremiere. Wie wichtig war es für Sie, dass dieser Film in Budapest zum ersten Mal gezeigt wurde?

Es war natürlich toll, den Film an der ehemaligen Wirkungsstätte von Carl Lutz erstmals öffentlich zeigen zu können. Noch dazu im Nationalen Filminstitut Urania, dem schönsten noch erhaltenen Jugendstil-Kino der Stadt. Ich war für Recherchen und Dreh des Films in den letzten drei Jahren mehrmals in der ungarischen Hauptstadt. Diese Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner sind mir ans Herz gewachsen, und da war es natürlich schön, etwas zurückgeben zu können.

Wie waren die Reaktionen des dortigen Publikums?

Es war in dem Sinne ein Heimspiel, da vor allem einheimisches Publikum und internationale Diplomaten eingeladen worden sind. Was mir aber auch Bauchweh bereitete, denn ich glaubte, diese Menschen würden – anders als in der Schweiz – die Geschichte von Carl Lutz kennen und sich möglicherweise langweilen. Dem war aber glücklicherweise nicht so, wie mir danach glaubhaft versichert wurde.

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André Sirtes, Zeitzeuge
Aus DOK vom 28.08.2014.
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In Ihrem Film kommen Lutz‘ Stieftochter Agnes Hirschi, aber auch andere Zeitzeugen zu Wort, denen Lutz damals durch die Schutzbriefe das Leben rettete. Welche Begegnung bleibt Ihnen am meisten in Erinnerung?

Schwierig zu sagen. Die Begegnungen mit den Überlebenden des ungarischen Holocausts waren für mich sicher der Höhepunkt, DAS Geschenk, das mir diese Arbeit gegeben hat. Alle, wirklich alle Überlebenden haben Biografien, die für einen eigenen, abendfüllenden Film reichen würden. Viele gerieten nach der Zeit des Nazionalsozialismus unter das Joch des Kommunismus. Einigen gelang die Flucht. Die meisten gingen zuerst nach Israel. Dort gerieten sie mitten in den jüdisch-arabischen Konflikt. Manche haben in der Armee gedient und sind geblieben, andere sind nochmals exiliert und mussten sich erneut eine neue Existenz aufbauen. Das sind Lebensgeschichten, wie wir sie als privilegierte Nachgeborene in einem reichen und politisch stabilen Land wie der Schweiz nicht kennen.

Wie schwierig war es, diese Menschen dazu zu bewegen, über ihr Schicksal zu reden? Zum Teil tun sie das in Ihrem Film ja zum ersten Mal seit den damaligen schrecklichen Ereignissen.

Wir haben gegen 100 Überlebende kontaktiert. Etwa 30 haben sich zurückgemeldet. Gut 20 waren dann dazu bereit, ihre Geschichte vor der Kamera zu erzählen. Bei einigen war mehrmaliges Nachfragen und Insistieren notwendig. Viele hatten ursprünglich Vorbehalte, haben auch ihren Nächsten noch nie von der schrecklichen Zeit in Budapest erzählt. Am Schluss haben sie sich dann doch zum Schritt an die Öffentlichkeit entschlossen. Aus einem Grund: aus Dankbarkeit und Verpflichtung gegenüber Carl Lutz, der so selbstlos mitgeholfen hat, jüdisches Leben zu retten und dem es bisher kaum gedankt wurde.

In der Schweiz ist Carl Lutz nur wenigen bekannt. Nicht umsonst nennen Sie Ihren Film «Der vergessene Held». Wie wurden Sie auf den Schweizer Diplomaten aufmerksam?

Per Zufall. Die Redaktion «DOK» von Schweizer Radio und Fernsehen gab mir nach meinem Kinofilm über Hugo Koblet grosszügigerweise eine Carte blanche. Ich erinnerte mich an ein kleines Büchlein auf Italienisch mit dem Titel «La casa di vetro», «Das Glashaus», das eine Studentin meiner Frau, die Italienisch-Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Graubünden ist, geschenkt hat und lange bei uns in der Wohnung relativ unbeachtet herumlag. Ich hatte auch nur den Klappentext gelesen und so von einem mir bis dahin unbekannten Carl Lutz erfahren, der in Budapest über 50’000 Menschen gerettet haben soll. Nach der Anfrage der Redaktion «DOK» habe ich das Buch ganz gelesen, und es war mir umgehend klar, dass dies mein nächstes Projekt ist.

Wie gingen Sie bei den Recherchen zu diesem Film vor, und in welchen Archiven wurden Sie fündig?

Nach der üblichen Crash-Recherche über Internet, habe ich Agnes Hirschi, die Stieftochter von Carl Lutz, angerufen und mich mehrmals mit ihr getroffen. Es war sofort klar, dass sie im Film eine Hauptrolle einnehmen würde, weil Agnes als Stieftochter dem privaten Carl Lutz am nächsten war. Viel näher als alle der Überlebenden, die zwar einen von Lutz ausgestellten Schutzbrief besassen, ihm aber höchstens einmal kurz begegnet sind. Über Agnes habe ich dann privilegierten Zugang zum Nachlass von Carl Lutz bekommen, der im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich liegt. Dieser ist öffentlich zugänglich und viele der tollen Fotos und Filme, die Carl Lutz gemacht hat, sind mittlerweile auch online visionierbar.

Statt seine menschliche Leistung anzuerkennen, wurde Lutz nach seiner Rückkehr in die Schweiz für Kompetenzüberschreitungen und mangelhafte Spesenabrechnungen gerügt. Erst 20 Jahre nach seinem Tod, 1995, hat Bern seine Verdienste offiziell anerkannt. Inwieweit verstehen Sie Ihren Film auch als Wiedergutmachung an Carl Lutz?

Wenn der Film das leisten kann, ist sicher ein Ziel erreicht. Die unglaubliche Geschichte von Carl Lutz ist ja nicht neu. Sie wurde 1995 vom Theologen Carl Tschuy in seinem Standardwerk «Carl Lutz und die Juden von Budapest» sehr detailliert und umfassend aufgearbeitet. Allerdings ist dieser historische «Schmöker» nur einem eingeweihten Publikum bekannt. Der Film hat den Vorteil, dass er ein sehr wirkungsmächtiges, unterhaltsames Medium ist. Da hoffen wir natürlich schon, ein breiteres Publikum zu erreichen, Lutz’ Geschichte einer grösseren Öffentlichkeit bekannt zu machen und so seiner beispiellosen humanitären Aktion jene Anerkennung zukommen zu lassen, die sie schon längst verdient hätte.

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