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Die Macht der Forensiker Islamisten präventiv wegsperren

Was machen wir mit Menschen, die dauerhaft gefährlich sind? Im Falle von Sexual- und Gewaltstraftätern sperren wir sie präventiv weg. Mit der Hilfe von Psychiatern. Das soll nun auch mit Islamisten passieren. Psychiater erstellen bereits entsprechende Gutachten.

Zur Person

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Jérôme Endrass studierte Psychologie, Psychopathologie und Philosophie an der Universität Zürich, habilitierte 2008 an der Universität Zürich und ist seit 2011 APL-Professor an der Universität Konstanz. Seit 2013 ist er stellvertretender Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich.

Ein Mann sprengt sich bei einem Popkonzert in Manchester in die Luft. Es war ein gezielter Angriff auf Kinder und Jugendliche: Der Attentäter hatte das Konzert eines Teeniestars gewählt. Die Tat in England schockiert – und macht sprachlos. Einmal mehr stellt sich die Frage: Was sind das für Menschen, diese Terroristen? Viele sind mitten unter uns aufgewachsen – und irgendwann bereit, in den Jihad zu ziehen, wieso?

In vielen Fällen seien es Menschen mit einer kriminellen Vergangenheit, sagt Jérôme Endrass, solche, bei denen Ideologie eine «untergeordnete Rolle» spiele. Es seien vielmehr ihre «Persönlichkeitsmerkmale», die diese Menschen gefährlich machten. Endrass ist Professor für forensische Psychologie und in der Schweiz der führende Forscher, wenn es um Fragen rund um islamistischen Terror geht.

Rechtsstaat wird beschädigt

Dass es Menschen gibt, vor denen man die Gesellschaft dauerhaft schützen muss, ist nichts Neues. In Zusammenhang mit Sexual- und Gewaltstraftätern ist das längst Realität. Stichworte sind hier «Verwahrung» und «kleine Verwahrung». Unter diesem Titel werden Menschen auf unbestimmte Zeit eingesperrt. Nicht um für ein begangenes Unrecht zu büssen, sondern präventiv. Weil Psychiater davon ausgehen, dass die Chance gross ist, dass sie in Zukunft ein schweres Verbrechen begehen werden.

Es handelt sich um eine Praxis, die unter Juristen äusserst kontrovers diskutiert wird. Die Entwicklung vom Schuld- zum Präventivstrafrecht beschädige unseren Rechtsstaat zusehends, sagt zum Beispiel der renommierte Zürcher Anwalt Matthias Brunner. «Wir wollen überhaupt keine Risiken in Kauf nehmen», so Brunner, «damit stossen wir an den Grundfesten eines liberalen Rechtsstaates.» Denn die Inkaufnahme von Restrisiko sei elementarer Bestandteil unserer Rechtsordnung, die mit der Hilfe von psychiatrischen Gutachten zusehends ausgehebelt werde.

Diagnose: Persönlichkeitsstörung

Jérôme Endrass verfasst solche Gutachten. Und er sieht «keinen Grund», wieso man diese Praxis des präventiven Wegsperrens nicht auch auf Islamisten anwenden könnte. Mit anderen Worten: «kleine Verwahrungen» (auch «59-er» genannt – weil es sich um den Artikel 59 des Strafgesetzbuches handelt) und «Verwahrungen» (auch «64-er» genannt – weil es sich um den Artikel 64 des Strafgesetzbuches handelt) könnten schon bald auch sogenannten «Gefährdern» drohen.

Besagte Artikel können aber nur zur Anwendung kommen, wenn wir es – salopp gesagt – mit «Spinnern» zu tun haben. Und das dürfte laut Endrass in den meisten Fällen so sein: «Damit jemand in unseren Breitengraden einen Anschlag macht, muss er eine auffällige Persönlichkeit haben.» Damit ist auch klar, was vor allem als Diagnose in Frage kommen dürfte: Persönlichkeitsstörungen.

«Mord am Zollikerberg» änderte alles

Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann das Gericht eine «kleine Verwahrung» oder eine «Verwahrung» anordnen. Das Gericht stützt sich bei einem solchen Entscheid auf eine «sachverständige Begutachtung», die sich über die Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten einer Behandlung des Täters und die Art und die Wahrscheinlichkeit weiterer möglicher Straftaten äussert. Mit anderen Worten: Die zentrale Figur ist ein Psychiater, der ein entsprechendes Gutachten verfasst. Dann ist der Weg frei fürs präventive Wegsperren.

Dass das in der Schweiz möglich ist, hat mit dem sogenannten «Mord am Zollikerberg» zu tun. 1993 tötete Erich Hauert, ein wegen elf Vergewaltigungen und zwei Sexualmorden vorbestrafter Triebtäter, in einem Hafturlaub die 20-jährige Pfadfinderführerin Pasquale Brumann. Danach war alles anders. Das Volk hat sich in mehreren Abstimmungen klar für die Devise «Im Zweifel für die Sicherheit» ausgesprochen.

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Psychiater erstellen neuerdings «Islamisten-Gutachten»

Diese neue Praxis ging einher mit einem massiven Machtzuwachs für forensische Psychiater. Sie wurden zu den entscheidenden Figuren bei den Anstrengungen, weitere Verbrechen von bereits vorbestraften Tätern zu verhindern.

Denn präventives Wegsperren bedeutet riesige Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte des Täters. Und diese dürfen laut Strafgesetzbuch «im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig» sein. Damit ein Richter abschätzen kann, ob ein solcher Entscheid verhältnismässig ist, braucht er jemanden, der ihm Auskunft gibt über die Gefahr, die von einem Täter ausgeht – nämlich einen Psychiater.

Die Expertisen ebendieser Psychiater sind neuerdings auch in Zusammenhang mit Islamisten gefragt, wie Jérôme Endrass gegenüber der Sendung «Reporter» bestätigt: «Es sind verschiedene Forensiker in der Schweiz und im Ausland involviert, wenn es darum geht, Gutachten zu erstellen bei Islamisten, die potenziell gewalttätig in Erscheinung treten können.»

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