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Grenzen der Medizin Esther hat unheilbaren Krebs überlebt – gibt es Wunderheilungen?

Esther Rathgeb hat Krebs im Endstadium, doch die Krankheit verschwindet wieder. Ihre Ärzte stehen vor einem Rätsel. Spektakuläre Genesungen sorgen immer wieder für Staunen. Ist das Gottes Werk oder Biochemie? Die Erklärungen gehen weit auseinander.

Vor sechs Jahren erhielt Esther Rathgeb eine niederschmetternde Diagnose. «Sie sind unheilbar krank», sagten ihr die Onkologen des Berner Inselspitals, sie könne nur noch palliativ behandelt werden. Die Ärzte gingen davon aus, dass ihr nur noch Wochen, allenfalls wenige Monate blieben. 

Sie hatte einen Tumor im Darm, der in die Lunge und ins Gehirn gestreut hatte. Sie schloss mit dem Leben ab und begann, ihre eigene Beerdigung zu organisieren. Doch es geschah, was die Spezialisten ausgeschlossen hatten: Der Krebs zog sich zurück.

«Das ist eine absolute Ausnahmesituation»

Nicht nur Esther Rathgeb und ihre Angehörigen wussten nicht, wie ihnen geschah. Auch die Onkologen seien bei jeder Kontrolle von Neuem erstaunt gewesen – und hätten angefangen, von einem Wunder zu reden.

Adrian Ochsenbein, Direktor und Chefarzt der Universitätsklinik für Medizinische Onkologie am Inselspital, bestätigt Rathgebs Erzählungen. Und er gibt offen zu: Wieso der Krebs entgegen allen Prognosen wieder verschwunden sei, wisse er nicht.

Esther Rathgeb ist heute krebsfrei. Auf die Frage, ob sie als geheilt gelte, antwortet Ochsenbein: «Weil das so selten ist, wissen wir das auch nicht. Das ist eine absolute Ausnahmesituation.» Man mache weiter mit Nachsorgeuntersuchungen, «weil niemand genau weiss, ob sie wirklich geheilt ist oder nicht.»

Keine Stossgebete, kein Wunderheiler

Als sie die Diagnose bekommen habe, habe sie sich nicht gefragt, wieso es sie getroffen habe, sagt Esther Rathgeb. «Ich frage mich jetzt auch nicht, wieso ausgerechnet ich so viel Glück hatte. Ich nehme es einfach entgegen und bin dankbar und voller Demut.» 

Esther Rathgeb hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, sagt, sie habe ein schönes Leben gehabt, gehadert habe sie nicht. Wieso sie genesen ist, bleibt rätselhaft. Sie schickte keine Stossgebete gen Himmel, Gott möge sie wider alle Wahrscheinlichkeit heilen. Es gab keine Besuche bei Wunderheilern. Und auch sonst nichts, das als Erklärung herangezogen werden könnte.

Das Einzige, was ihr einfällt, ist: Ihre Tochter habe ihr kurz nach der Diagnose eröffnet, dass sie im dritten Monat schwanger sei mit Zwillingen. Da sei der Wunsch entstanden, noch sechs Monate durchzuhalten, um die Kinder auf der Welt willkommen zu heissen und sich von ihnen zu verabschieden.  

Hochkomplexe Prozesse im Gehirn

«Wir unterschätzen die Selbstheilungskräfte des Körpers massiv», sagt Urs Pilgrim. Er ist Arzt im Ruhestand und hat zwei Bücher über die Beziehungen zwischen Medizin und Religion geschrieben. An Wunder glaubt er nicht. Für ihn ist klar: «Es gibt keine Phänomene ausserhalb unserer physikalisch-biologischen Welt – aus wissenschaftlicher Sicht, aus religiöser Sicht ist das anders.» 

Wer sich dem Mysterium wundersamer Heilungen annähern will, dem empfiehlt er nicht das Studium der Bibel, sondern die neusten Erkenntnisse der Biochemie. Das Potenzial unseres Gehirns sei gewaltig, die entsprechenden Prozesse zwar hochkomplex, aber durchaus erklärbar.  

Prof. Dr. med. und gläubig

Was bisweilen als Wunder beschrieben wird, kommt nur sehr selten vor. Und es stellt sich die Frage: Wieso? Wenn wir alle diese Selbstheilungskräfte in uns tragen, warum entfalten sie dann nur so selten ihre volle Wirkung? Ist es schlicht Glück? Oder eine Frage des Willens? Oder ist es am Ende doch ein göttlicher Funke, der die Kaskade der Heilung auslöst? 

Cornel Sieber, hochdekorierter Arzt mit Professorentitel und medizinischer Leiter des Kantonsspitals Winterthur, ist praktizierender Christ. Er glaubt an eine höhere Macht, die in unser Leben eingreifen kann – und es durchaus auch tut: etwa, indem sie Wunderheilungen bewirkt. 

Das letzte Wunder von Lourdes: Antonia Raco

Cornel Sieber ist Mitglied des «Internationalen Medizinischen Komitees von Lourdes», kurz CMIL. Das CMIL besteht aus herausragenden Medizinern, die sich einmal pro Jahr in Lourdes treffen, um sich mit wundersamen Heilungen zu befassen, die sich dort ereignet haben. Dem CMIL wurden schon Tausende von Fällen eindrücklicher Genesungen vorgestellt, nur die wenigsten überzeugten das Komitee.

Der letzte Fall, der die Mediziner überzeugte, war derjenige einer Süditalienerin namens Antonia Raco. Raco litt an Primärer Lateralsklerose, kurz PLS, einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems. Sie konnte sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen. 2009 pilgerte sie nach Lourdes und wurde geheilt.

Bisher 72 anerkannte Wunder

Zum Fall Antonia Raco wurden verschiedene Gutachten von renommierten Spezialisten eingeholt, bis das medizinische Expertengremium von Lourdes schliesslich befand, ihre Heilung sei unerwartet, vollständig, dauerhaft und nach medizinischem Kenntnisstand unerklärlich.

Das Wort Wunder nimmt das CMIL nicht in den Mund, darauf legen die Mediziner Wert. Es ist die katholische Kirche, welche eine Heilung schliesslich als Wunder anerkennt – gestützt auf den Bericht des CMIL. Bis heute wurden 72 Fälle offiziell zu Wundern erklärt. 

Die CMIL-Mitglieder sind allesamt renommierte Experten und Expertinnen auf verschiedenen Gebieten der Medizin. Sie sind aber gleichzeitig auch Gläubige und damit nicht unabhängig. Cornel Sieber erwidert: «Ich glaube, man muss uns zutrauen, dass wir das trennen können.» 

«Es gibt etwas Schicksalhaftes»

Wundersame Heilungen – göttliche Interventionen, Zufall oder Ausdruck des eigenen Willens, der die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert? Alexander Wünsch, Professor für Psychoonkologie, warnt davor, in Bezug auf Krebs die Macht der eigenen Gedanken zu überschätzen.

Die Forschung habe sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob Einstellung und psychologische Faktoren Einfluss haben auf die Krebsgenese. «Wir gehen in der Psychoonkologie nicht davon aus», sagt Wünsch. Der Krebs sei beeinflussbar – über eine schulmedizinische Behandlung. «Aber es gibt auch Schicksalhaftes.»

SRF 1, DOK, 11.12.2025, 20:05 Uhr; herb

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