Mit 9 Jahren ist Kilian ein feingliedriger, liebenswerter und sehr neugieriger Junge, der aber immer übers Ziel hinausschiesst. Seine Mutter kennt es nicht anders. Bereits als Kleinkind eckte Kilian überall an, ein Nachmittag auf dem Spielplatz endete fast immer mit einem Drama.
In der Schule findet das Leiden seine Fortsetzung. Kilian kommt mit den Kollegen nicht klar und mit dem Schulstoff nicht nach, er ist nervös und fahrig und das, obwohl er bereits ab 6 Jahren eine relative hohe Dosis Ritalin bekommt. Kilian gibt sich viel Mühe, will alles gut und richtig machen, und trotzdem geht alles daneben.
Heute ist Kilian 15 Jahre alt, und sein Leben ist alles andere als einfach verlaufen. Er hat einige Schulwechsel hinter sich und grosse Lücken im Schulstoff. Trotzdem ist er nun in der Oberstufe und muss schauen, dass er eine Lehrstelle findet. Zudem kommt er in die Pubertät, was das Leben auch nicht einfacher macht.
Kilian
Erfolgreich und kreativ mit ADHS
Dass man diese schwierige Zeit überstehen kann, und das Leben mit ADHS sogar sehr gut gelingen kann, zeigt die Lebensgeschichte von Schauspieler und Theaterdirektor Daniel Rohr.
Rohr ist auch als Erwachsener sehr umtriebig, er sieht und hört alles und hat jeden Tag tausend Ideen. Aber im Gegensatz zu früher, wo er mit seiner Hyperaktivität oft vor der Schulzimmertür landete und auch erst auf Umwegen zu seinem Beruf kam, hat er heute ein Umfeld, das damit umgehen kann, und ihn so unterstützt, dass er mit seinem Theater sehr erfolgreich ist.
Daniel Rohr
Heiner Lachenmeier ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er schildert drei Lebenswege von Betroffenen mit ADHS und zeigt auf, wie unterschiedlich der Umgang damit sein kann, und wie entscheidend eine Diagnose ist. Die Biographien sind anonymisiert.
Bei ADHSlern entscheidet häufiger als bei Nicht-ADHSlern schlicht Glück oder Pech über den weiteren Weg. Ein zündender Gedanke, die richtige Begegnung oder die passende Möglichkeit zum richtigen Zeitpunkt spielen eine grössere Rolle, da unter ADHS-Bedingungen oft weniger gezielt und weniger bewusst auf lange Zeit geplant wird. Schon allein deshalb ist es wichtig, dass man bei sich selbst eine allfällige ADHS kennt, um bewusster entscheiden zu können. Heiner Lachenmeier, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, beschreibt drei Fälle, die ihm in seiner Berufspraxis begegnet sind:
1. Die couragierte Teenie-Mutter
Frau A erlebte eine stürmische Kindheit. In der Schule fiel sie durch Unaufmerksamkeit, häufigem Dreinreden und fehlendem Einsatz auf. Bei unsteter Familiensituation wurde sie mehrfach in Kinderheimen platziert. Früh wurde eine ADHS diagnostiziert, die Behandlung war schwierig, die Jugendliche zeigte wenig Interesse daran.
Kurz nach Abschluss der Realschule – Frau A hatte noch keinen Ausbildungsplatz – wurde sie ungewollt schwanger. Vom bisherigen Lebensverlauf her gab es keine Anzeichen, dass sie diese Lage meistern könnte. Frau A drohte völlig abzugleiten.
In diesem Moment erhielt Frau A tatkräftige Unterstützung und Vertrauen von ihrer Grossmutter. Wider allgemeiner Erwartung zeigte sie dann nach der Geburt ihres Kindes grosses Verantwortungsbewusstsein. Zunehmend konnte sie zuvor verborgene Ressourcen mobilisieren. So fand sie eine Lehrstelle, organisierte die Kinderbetreuung, lernte haushalten sowie die Zusammenarbeit mit Behörden. Und sie suchte sich eine passende ADHS-Behandlung. Mittlerweile hat Frau A die Lehre abgeschlossen und ist sogar auf dem Weg zur Berufsmatura. Ihr IQ ist deutlich höher als es der schulische Weg vermuten liess.
Grosse, unerwartete Lernfortschritte
Das Beispiel von Frau A zeigt, dass sich ADHSler manchmal gerade dann, wenn man es am wenigsten vermutet, besonders bewähren und zu Leistungen fähig sind, die man nicht erwartet hätte. Ebenso ist erkennbar, dass durch die Verzögerung in der Entwicklung auch relativ spät noch grosse, unerwartete Fortschritte möglich sein können.
2. Der Student mit eigenem Weg
Herr B wuchs behütet auf. Verschiedene Extremsportarten verschafften ihm regelmässige Kicks. Die Schule interessiert ihn, und dank seiner hohen Intelligenz schaffte er leicht die Matura. Er war beliebt, alles schien bestens. Äusserlich auffällig war lediglich eine gewisse Impulsivität.
In der Pause zwischen Matura und Beginn des Jurastudiums fiel Herr B in ein Loch. Ungewohnt für ihn wusste er oft nicht, was er unternehmen wollte. Nach dem Semesterbeginn merkte er, dass ihn die Juristerei doch nicht interessierte. Die Schwierigkeiten steigerten sich. Zunehmend litt er nun unter starken, depressiven Stimmungsschwankungen.
Mehrfach verwickelte er sich – unter Alkoholeinfluss – in Schlägereien. Der Zustand verschlechterte sich. Letztlich kam es zu einem Suizidversucht und Herr B wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.
In der Klinik erhielt Herr B die Diagnose einer Borderline-Störung, einer Diagnose, die äusserlich durchaus zum Zustandsbild passte. Aufgrund der Diagnose wurde ihm aber geraten, wegen seiner emotionalen Instabilität, Suchttendenz und Impulsivität einen einfachen Beruf zu erlernen, er könne wohl kaum eine anspruchsvolle Ausbildung durchlaufen. Doch Herr B hatte in der Zwischenzeit ein starkes Interesse an der Medizin entwickelt. Herr B war nun völlig verunsichert und unentschlossen.
Der erste nachbehandelnde Psychiater erkannte, dass Herr B nicht an einer Borderline-Störung litt, sondern eine ADHS hatte. Er überwies ihn zur spezifischen Abklärung und Behandlung. Die Diagnose konnte bestätigt werden. Herr B erkannte dann schnell die Funktionsweise der ADHS, auch im Zusammenhang mit seiner Symptomatik.
Engagierter, junger Arzt
Entgegen dem Rat der Klinik und dem seines privaten Umfeldes begann er das Medizinstudium. Gleichzeitig arbeitete er in der Behandlung (psychotherapeutisch und medikamentös) aktiv mit. Im Laufe der Jahre kam es noch zu einigen stürmischen Situationen. Letztlich lernte Herr B aber mit seiner ADHS konstruktiv umzugehen. Das Studium hat er mittlerweile längst abgeschlossen und arbeitet als sehr engagierter, junger Arzt.
Das Beispiel von Herrn B demonstriert die Wichtigkeit der richtigen Diagnose. Es zeigt, dass man sich nicht zu sehr von auffälligen Symptomen ablenken lassen darf. So wichtig die Symptome sein können, ist deren Einschätzung im Kontext der Gesamtperson entscheidend.
3. Der engagierte Lehrer
Herr C war schon seit über 30 Jahren ein engagierter Lehrer, als er mit der Diagnose einer Erschöpfungsdepression in die psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Schon Jahre vorher hatte er wiederholt unter heftigen Stimmungsschwankungen gelitten. Nun war er ausgebrannt. In der Klinik wurde die übliche Behandlung aufgenommen. Bald ging es Herrn C besser.
Nach zwei Monaten wurde die Therapie ambulant weitergeführt. Anders als in vergleichbaren Fällen verschlechterte sich der Zustand schnell wieder mit heftigen Stimmungsschwankungen, Selbstzweifeln, Angst und Energielosigkeit. An eine Wiederaufnahme der Arbeit war nicht zu denken.
Aufgrund dieses Verlaufes wurde eine vertiefte ADHS-Abklärung veranlasst. Dabei zeigte sich, dass Herr C schon immer Mühe mit der Organisation seiner Arbeit gehabt hatte. Das Planen der Elternarbeit, der verschiedenen Themenabläufe und der Aktivitäten im Schuljahr waren immer eine Qual, es fehlte ihm der Überblick.
Übermässig viel Energie
Oft musste er improvisieren, da er Unterlagen vergessen hatte, er befand sich konstant im Stress. Noch weiter zurückblickend zeigten sich bereits in der Kindheit zahlreiche ADHS-Symptome wie dauerndes Zappeln und Herumklettern, Unkonzentriertheit, zahlreiche Flüchtigkeitsfehler, fahrig-unsaubere Schrift (im Zeugnis vermerkt) und ständiges Verlegen und Vergessen verschiedenster Dinge.
Das alles fiel nicht übermässig auf, da Herr C dank seiner hohen Intelligenz trotzdem gute Noten erzielte, und ganz allgemein ein charmanter Junge war, dem manches nachgesehen wurde.
Die Diagnose der ADHS brachte für Herrn C wesentliche therapeutische Fortschritte vor allem bezüglich depressiver Stimmungsschwankungen und Selbstzweifel. Leider blieben die Symptome der Energielosigkeit und Antriebshemmung so stark, dass der Kanton als Arbeitgeber keine andere Möglichkeit als eine Frühpensionierung sah.
Das Beispiel von Herrn C demonstriert, dass Menschen mit ADHS durchaus ein normales Leben führen können, ohne speziell auffällig zu sein. Wenn aber die ADHS nicht bekannt ist, brauchen die Betreffenden oft übermässig viel Energie, um ihren Aufgaben nachzukommen. Organisatorische Schwierigkeiten und quälende Selbstzweifel sind dabei oft bedeutsamer als Unkonzentriertheit und Hyperaktivität. Es besteht ein erhöhtes Risiko für ein sogenanntes Burnout. Bei Herrn C wurde die ADHS leider zu spät erkannt, die Symptomatik der Erschöpfungsdepression war bereits chronifiziert.