Samstagabend in Bern: Beim monatlichen Puppy-Stammtisch mischt sich Jannis (30) unter Menschen mit Hundemasken, Halsbändern und Leinen. Es wird sich gegenseitig beschnuppert, gekrault, getanzt und gespielt. Der Umgang ist vertraut und liebevoll. Für Jannis, der in die Rolle des Welpen Liore schlüpft, ist es ein Ort, an dem er den Alltagsstress ausblenden und in eine andere Welt abtauchen kann. «Ich möchte einfach ein kleiner Welpe sein und kuscheln», sagt er. In dieser Rolle sei ihm egal, was andere denken oder was gerade in der Welt passiert.
«Puppy Play» ist eine Form des Rollenspiels, bei der Menschen das Verhalten von Hundewelpen nachahmen. Ursprünglich stammt die Praxis aus der BDSM-Community und kann auch einen sexuellen Fetisch umfassen, der mit Macht- und Dominanzdynamiken verbunden ist. «Einige zelebrieren diesen Teil stärker als andere», sagt Jannis. Ob Sexualität Teil des eigenen Puppy-Seins sei, entscheide jede Person für sich. «Für mich ist Puppy Play eine Mischung aus Fetisch und Hobby, wobei der spielerische Teil klar überwiegt.»
Warum Menschen zu Welpen werden
Die Gründe, warum Menschen in die Rolle von Hunden schlüpfen, sind vielfältig. Eine Studie aus Grossbritannien hat untersucht, was Teilnehmende dazu bewegt. Für einige dient Puppy Play als Flucht aus dem Alltagsstress, zur Entspannung und Erholung. Das Rollenspiel kann es ermöglichen, mental in eine spielerische, sorgenfreie Welt einzutauchen und andere Seiten der eigenen Persönlichkeit auszuleben und zu entdecken.
Wenn ich als Liore unterwegs bin, kann ich Dinge machen, die ich als Jannis nicht kann.
«Wenn ich als Liore unterwegs bin, kann ich Dinge machen, die ich als Jannis nicht kann», erzählt er. «Ich kann zum Beispiel wildfremde Menschen umarmen oder einem Ball nachrennen.» Diese Unbeschwertheit und Freude, die er dabei verspüre, seien im normalen Alltag eingeschränkt. Für manche sei Puppy Play zudem eine soziale Erfahrung, bei der Gemeinschaft und Zugehörigkeit im Vordergrund stehen.
Ein Ort dieser Gemeinschaft ist für Jannis auch die Maspalomas Fetish Week auf Gran Canaria, gemäss eigenen Angaben eines der grössten Fetischtreffen für Männer in Europa. Dieses Mal ist auch sein Partner Kevin zum ersten Mal dabei, mit dem er seit einem Jahr zusammen ist. Für Kevin ist die Puppy-Play-Welt noch neu. «Ich fand es schon immer spannend und ‹härzig›. Für mich ist es aber noch ein Herantasten», sagt er.
Eine Beziehung mit klaren Rollen
«Bei Kevin und mir ist es so, dass er mein ‹Handler› ist und ich sein Puppy bin», erklärt Jannis. Im Puppy Play übernimmt der sogenannte Handler die verantwortungsbewusste, dominierende Rolle: Er betreut, pflegt oder kontrolliert den Welpen. «Das kann man sich ähnlich vorstellen wie bei einem echten Hund, um den man sich zu Hause kümmert», sagt Jannis.
Auf der Partymeile bleibt Kevin meist im Hintergrund, während Jannis sich unter die anderen Hunde mischt. Er selbst sei ein introvertierter Mensch und beobachte Dinge lieber von aussen. «Es ist schön zu sehen, wie Jannis aufblüht und sich entspannen kann.»
Voll in seiner Rolle als Liore geht Jannis auf Touristinnen und Touristen zu. Eine Frau übernimmt sofort die dominante Position und fordert ihn auf, sich zu setzen und Pfötchen zu geben. Als Belohnung streichelt sie ihn. «Ich finde es einfach cool, Leuten Freude zu bereiten», sagt Jannis. «Du machst eigentlich nichts, ausser sie anzubellen, anzustupsen oder ein Foto zu machen. Das gefällt mir daran.»
Ich habe eines Tages meiner Mutter gesagt: ‹Hey, ich bin übrigens ein Hündli›
Seinem Umfeld zu erzählen, dass er manchmal ein Welpe ist, fiel ihm überraschend leicht. «Ich habe es eines Tages meiner Mutter gesagt: ‹Hey, ich bin übrigens ein Hündli›. Später habe ich es auch im Geschäft erzählt.» Die Leute hätten zwar gelacht und gesagt, dass er einen Flick ab habe, doch die Reaktionen seien nie wirklich negativ gewesen.
Vielleicht habe es sich auch einfacher angefühlt, weil es für ihn bereits das zweite Outing gewesen sei. Einige Jahre zuvor hatte er sich als pansexuell geoutet. «Damals war es ein langer Prozess, zu überlegen, wem ich es sage und ob ich dann noch akzeptiert werde.» Diese Unsicherheiten habe er beim Outing als Puppy nicht mehr gehabt.
Auch seine Mutter Janine unterstützt ihn, obwohl es sich für sie anfangs ungewohnt angefühlt habe. «Ich kann nichts damit anfangen», sagt sie. «Aber Jannis konnte mir erklären, was ihm daran gefällt, und dann konnte ich es annehmen.» Von der sexuellen Komponente möchte sie lieber nichts wissen.
Janine erinnert sich an ein Foto, auf dem Jannis als Puppy zu sehen ist. «Ich fand es sehr schön, was er dort getragen hat, obwohl es nicht meins ist.» Gestört habe sie weniger das Outfit als der Blick eines Kollegen von Jannis. Er habe ihn mit seinem Blick ausgezogen. «Da kam mir der Gedanke: ‹Gohts no!› Das ist mein Kind», erzählt sie. «Das hat aber mit mir zu tun, weil ich ein ‹Bünzli› bin.» Und das passt für Jannis. Jeder solle selbst entscheiden, ob er ihn als Liore wahrnehmen möchte oder nicht, genauso, wie er für sich entscheide, Liore zu sein.