«Ich hatte immer ein Messer dabei. Es hat mir Sicherheit gegeben und das Gefühl von: Scheissegal, wer kommt – ich fick ihn sowieso.» Marco* fühlte sich als Teenager unsicher und hatte das Bedürfnis, sich zu bewaffnen. Zum Selbstschutz, «ohne Messer fühlte ich mich nackt», wie er am Basler Rheinufer erzählt.
So wie Marco geht es vielen jungen Männern in der Schweiz. Umfragen zeigen, dass Messer häufig in den Taschen von vor allem jungen Männern landen. Rund jeder fünfte männliche Jugendliche gibt an, schon einmal mit einem Messer bewaffnet nach draussen gegangen zu sein. Eine Strassenumfrage in Basel zeichnet ein ähnliches Bild: «Im Freundeskreis meines jüngeren Bruders tragen alle ein Messer», oder «man will sich einfach schützen», sind hier typische Aussagen.
Das spiegelt sich auch in den Zahlen zu Körperverletzungen wider. Laut der Kriminalstatistik des BfS haben sich in den letzten fünf Jahren die Körperverletzungen mit Schneid- und Stichwaffen mehr als verdoppelt: von 120 Vorfällen im Jahr 2020 auf 256 im Jahr 2024.
Marco selbst hat nie zugestochen, er hatte seine Messer aber über längere Zeit immer griffbereit – in der hinteren rechten Hosentasche. Sein Umfeld machte er damit nervös, seine Freunde machten sich Sorgen: «Denn wenn ich ein Messer zücken kann, dann kann das Gegenüber genauso ein Messer ziehen.»
Woher genau der Trend zum Messertragen kommt, lässt sich wissenschaftlich nur schwer eindeutig erklären. Für Dirk Baier, Extremismus-Experte und Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), gibt es jedoch Hinweise auf eine gesellschaftliche Verschiebung, die besonders bei Jugendlichen spürbar wird. Er beobachtet in den letzten Jahren eine zunehmend aggressive Grundhaltung: «Ein aggressives Sichdurchsetzen – ganz nach dem Vorbild eines Donald Trump – kommt bei vielen Jugendlichen gut an.»
Messergewalt als politisches Pulverfass
Die Zunahme der polizeilich erfassten Straftaten hat auch die Politik dazu bewegt, einen genaueren Blick auf die Thematik zu werfen. Es gibt parlamentarische Vorstösse – von links wie von rechts – mit dem Anliegen, dass sich der Bundesrat des Themas annehmen soll.
Im Fokus steht hierbei auch immer wieder die Migrationsdebatte. Rechnet man den Migrationsanteil bei allen polizeilich registrierten Straftaten mit Schneid- und Stichwaffen der letzten fünf Jahre aus, liegt dieser bei 65 Prozent. Diese Zahl müsse jedoch in den richtigen Kontext gesetzt werden, sagt Dirk Baier, der auch an der Universität Zürich zur Kriminalprävention forscht: «Dieser Wert hat mit Lebenssituationen zu tun und mit schwierigen biografischen Erfahrungen. Wir sollten das Problem nicht auf Staatsangehörigkeit oder Herkunft schieben.»
Es gibt die Annahme, dass harte Strafen das Problem eindämmen würden.
Entscheidend seien vielmehr sozioökonomische Umstände und individuelle Faktoren: Menschen, die selbst mit Gewalt aufgewachsen sind, begehen häufiger Gewalttaten. Auch Jugendliche, die früh mit Alkohol und Drogen in Kontakt kommen, seien stärker gefährdet.
Mythos Abschreckung
Ein weiterer Irrglaube sei laut Baier die Abschreckung durch harte Strafen: «Es gibt die Annahme, dass harte Strafen das Problem eindämmen würden. Doch wir wissen aus der Forschung, dass dies der falsche Weg ist.» Auch die Idee, stärker zu kontrollieren – etwa durch Waffenverbotszonen –, sei nicht nachhaltig, so Dirk Baier.
Baier nimmt die Gesellschaft als Ganzes in die Pflicht. Helfen würde es, bei den Menschen selbst anzusetzen – hier seien auch Eltern, Fussballtrainer oder Lehrpersonen gefordert. Diese Bezugspersonen könnten das Thema ansprechen und aufzeigen, welchen Teufelskreis das Tragen eines Messers auslösen kann. Sie könnten junge Menschen sensibilisieren, auf Messer zu verzichten. In der Regel führe das zu einem positiven Effekt: dass solche Themen wieder an Bedeutung verlieren. Und: Laut Baier haben sich die Zahlen auch etwas stabilisiert. «Wir haben es also bereits geschafft, die Situation wieder etwas zu beruhigen.»
Medien als Brandbeschleuniger
Ein letzter, aber zentraler Punkt ist hier auch die mediale Berichterstattung. Je häufiger Schlagzeilen mit dramatischem Tonfall auftauchen, desto grösser wird die Wahrnehmung, dass das Tragen eines Messers zum Alltag dazugehört. Dies kann vor allem bei jungen Menschen dazu führen, dass sie sich aus Unsicherheit vermeintlich schützen wollen oder schlicht dazugehören möchten.
Ich habe realisiert, dass ich nie zustechen könnte.
Hier beginnt eine gefährliche Dynamik: Die ständige Präsenz des Themas in den Medien kann unbeabsichtigt zur Normalisierung führen. Es ist eine Gratwanderung zwischen dem Ansprechen realer Probleme und der Clickbait-Mentalität. Denn wo die Berichterstattung nicht sorgfältig differenziert, steht die öffentliche Debatte schnell auf Messers Schneide – zwischen Aufklärung und Angstverstärkung, zwischen Prävention und Panikmache.
Vom Träger zum Opfer
Für Marco ist das Thema Messertragen abgehakt. «Ich habe realisiert, dass ich nie zustechen könnte», sagt er rückblickend. Allein diese Erkenntnis habe ihm gezeigt, wie sinnlos es gewesen sei, ein Messer mit sich herumzutragen. Statt Schutz vermittelte es ihm letztlich nur ein trügerisches Gefühl von Kontrolle und birgt ein hohes Risiko. Denn er erkannte auch, wie schnell solche Situationen eskalieren können, sobald eine Waffe im Spiel ist. Heute setzt Marco auf einen anderen Weg: Er habe sich dem Kampfsport gewidmet, trainiere regelmässig und habe dadurch ein neues Gefühl von Sicherheit entwickelt.
Doch ganz abgeschlossen ist das Kapitel für Marco nicht. Vor wenigen Wochen holte ihn die Messerdynamik erneut ein. Beim Ausgang sei seine Gruppe auf eine andere gestossen – die Stimmung war zunächst entspannt, man verstand sich gut. Doch plötzlich kippte sie. Ein kurzes Wortgefecht, Beleidigungen – und Marco stand plötzlich einem Jugendlichen gegenüber, der ein Messer zog. «Er stand einen halben Meter vor mir und sagte, ich soll doch kommen. Aber ich habe in seinen Augen gesehen, dass er nicht zustechen würde.» Die Situation ging glimpflich aus, doch Marco ist bewusst, wie schnell alles hätte eskalieren können, wenn auch er bewaffnet gewesen wäre: «Dann hätte es sehr schnell kippen können.»
* Name der Redaktion bekannt.