«Jedes Wochenende gehen wir auf die Jagd!» Gemeint ist damit keine Jagd auf Rehe oder Wölfe – sondern die Jagd auf Menschen: genauer gesagt, auf mutmassliche Pädophile. Yannick (Name der Redaktion bekannt) organisiert solche Jagden. Im Netz gibt er sich als 14-jähriges Mädchen aus und beginnt, mit Männern zu chatten. Zeigen sie Interesse, kommt es in der Regel zu einem Treffen – meist an einem abgelegenen Ort, oft in Waldstücken ausserhalb der Stadt.
Am ausgemachten Treffpunkt wartet auf den mutmasslichen pädokriminellen Mann kein junges Mädchen, sondern eine Gruppe männlicher Teenager: kampfbereit, teils bewaffnet, vermummt. Was dann geschieht, lässt einen erschaudern. Die Fluchtwege werden blockiert, die ahnungslosen Männer überwältigt und geschlagen – teils minutenlang.
Die Jugendlichen filmen ihre Aktionen und stellen die Aufnahmen ins Netz. Unterlegt mit lockerer Musik, durchsetzt mit Chatverläufen, die den Kontakt mit Minderjährigen belegen sollen. So entsteht der Eindruck: Der Mann hat die Schläge verdient. Eine vermeintliche Legitimation für rohe Gewalt. Das solle Pädophile abschrecken, rechtfertigen sich die «Pedo-Hunter».
«Das ist ein uraltes Muster», sagt der Extremismusexperte Jérôme Endrass. «Jeder Täter sucht für seine Gewalttaten immer eine Rechtfertigung.» Das Thema Pädophilie eigne sich dafür besonders gut.
Treffen mit den Jägern im Wald
Wer in der Schweiz zum Thema Pedo-Hunting recherchiert, stösst unweigerlich auf die Gruppe «PHCH». Auch ein Video auf der Plattform X, in dem ein Mann brutal zusammengeschlagen wird, trägt das Wasserzeichen dieser Gruppe.
In den Kommentarspalten dieser Videos lässt sich ein Muster erkennen: Einige User sind besonders aktiv – sie kommentieren auffallend häufig und antworten teils im Namen der gesamten Gruppe. Der Versuch, mit ihnen in Kontakt zu treten, gestaltet sich als schwierig. Mehrere Anläufe bleiben ohne Antwort, Nachrichten verlaufen im Sand. Doch nach Wochen wird einem Treffen zugestimmt.
Das Misstrauen gegenüber den Medien ist gross, ebenso die Angst vor der Polizei. Einen Ort nennen sie lange nicht – nur eine Uhrzeit. Erst kurz vor dem Treffen schicken sie die Koordinaten: eine Grillstelle im Wald, am Stadtrand von Zürich.
Wenn die Videos viral gehen, sehen das andere Pädophile und haben Angst, sich künftig mit Kindern zu treffen.
Vor Ort: warten. Keine Spur der Hunter, nur ein paar Wanderer schauen verwundert auf das bereitgestellte Kamera-Equipment. Wir sind nervös – niemand weiss, wer gleich auftauchen wird. Dann vibriert das Handy: eine Nachricht. Sie sind unterwegs, heisst es, ein paar Mitglieder fehlen noch. Minuten später trotten zwei Personen den Berg hinauf.
Die brutale Härte, die sie online zeigen – die Schläge, die Beleidigungen, die rohe Sprache –, ist verschwunden. Da stehen zwei Teenager: nervös, scheu, beinahe unsicher. Kaum zu glauben, dass sie hinter jenen Akten von Selbstjustiz und Gewalt stecken. Doch der Zweifel währt nicht lange. Sie berichten eifrig, stolz und detailliert von ihren «Hunting-Aktionen».
Prügelvideos als Abschreckung?
«Wir wollen diese Pädos treffen und verprügeln. Wenn die Videos viral gehen, sehen das andere Pädophile und haben Angst, sich künftig mit Kindern zu treffen.» So beschreibt Yannick seine Motivation. Die Forschung widerspricht hier jedoch klar, erklärt Endrass: «Abschreckung führt nicht dazu, dass solche Taten verhindert werden.»
Wer die Schwelle überschreite, ein schweres Sexualdelikt an einem Kind zu begehen, lasse sich davon nicht aufhalten. Die Angst, von der Polizei erwischt zu werden, habe laut Endrass eine deutlich stärkere Wirkung, und auch diese reiche meist nicht aus.
Zurück im Wald. Yannick erzählt, Aktionen wie im Video, bei denen ein Mann verprügelt wurde, fänden in der ganzen Schweiz statt. Hundert Personen seien schweizweit beteiligt, behauptet er. Eine Zahl, die zumindest Zweifel aufkommen lässt.
SRF Impact ist es gelungen, in verschiedene Telegram-Chats der Pedo-Hunter-Gruppierung einzudringen. Einer dieser Chats zählte tatsächlich über 200 Mitglieder, ist aber inaktiv. Ein weiterer umfasst kaum ein Dutzend Personen. Auffällig ist: In den Gruppen kursieren offen rechtsextreme Nachrichten und Symbole.
Undercover im Chat
Eine neue Dynamik in der Recherche entstand mit einem Artikel des Onlinemagazins Republik: Ein Redaktor las dort fünf Monate lang verdeckt im Signal-Chat der Pedo-Hunter-Gruppe mit, die im Zürcher Wald zugegen war.
Es ist ein weiterer und der wohl aktivste Chat der Gruppe. Die Chatkonversationen lassen einen erschaudern: Der Chat ist voll mit rechtsextremen Parolen, Antisemitismus, homophoben Schmähungen und offener Nazi-Symbolik. Ein Nutzer nennt sich «NiemandMagDieJuden», ein anderer protzt in einem Video mit mutmasslichen Nazi-Relikten aus dem eigenen Haushalt.
Neben der offen gezeigten rechtsextremen Symbolik tritt eine ausgeprägte Homophobie zutage: In einem Chat schreibt ein Nutzer, er wolle «einen Schwulen» schlagen, ein anderer schlägt gar einen Angriff auf eine Pride-Veranstaltung vor.
Das Bizarre an der Geschichte: Die Jugendlichen bekommen von der Publikation des Republik-Artikels nichts mit. Der Journalist bleibt weiterhin im Chat – und kann so fortlaufend über neue Entwicklungen informieren.
Ideologie im Hintergrund
Die Verbindung zwischen Rechtsextremen und den sogenannten Pedo-Huntern ist kein Zufall – sie folgt einem Muster. Wie der Extremismusforscher Jérôme Endrass erklärt, wird das Argument des «Kinderschutzes» seit Jahrhunderten instrumentalisiert. «Bereits im Mittelalter hat man behauptet, jüdische Gemeinden würden christliche Kinder schlachten.»
Auch heute greifen rechtsextreme Gruppierungen diese Rhetorik wieder auf: Der vermeintliche Kampf gegen «Kinderschänder» dient als Deckmantel, um Hass zu säen und Gewalt zu rechtfertigen. Die Figur des «Kinderschützers» wird so zum moralischen Schutzschild für ideologische Feindbilder.
Während sich Yannick beim ersten Interview noch klar vom rechtsextremen Gedankengut distanziert, zeigen sich seine Mitstreiter bei einem zweiten Treffen von einer ganz anderen Seite – offener, radikaler, und weit weniger bemüht, ihre Haltung zu verbergen.
Die Masken fallen
Wieder derselbe Ort: ein abgelegener Grillplatz mit Blick über Zürich. Die Stimmung ist diesmal spürbar angespannter. Heute werden die «Pedo-Hunter» mit ihren eigenen Chatnachrichten konfrontiert. SRF Impact liegen inzwischen dutzende Chat-Verläufe ihrer Gruppe vor – minutiös dokumentiert vom Republik-Journalisten.
Hier geht es nicht um Kinderschutz, es geht um Gewalt.
Von digitaler Vorsicht ist in ihrem Chat wenig zu spüren. Es lassen sich nicht nur sämtliche Nachrichten einsehen, sondern man weiss auch, wer beim Treffen erscheinen wird. Yannick wird dieses Mal nicht dabei sein, dafür ein User, der beinharte Nazi-Rhetorik im Chat verwendet: Gruppenmitglied «Snowman».
Drei Jugendliche tauchen auf. Ihre Kleidung – etwa ein «Lonsdale»-Pullover, in der rechtsextremen Szene kein unbekanntes Symbol – deutet bereits auf eine gewisse Haltung hin. Vermummt sprechen sie über ihre Motivation. Alles drehe sich, so betonen sie, um den Schutz von Kindern. Rechtsextreme Inhalte gebe es in ihrem Chat keine, zu Treffen kämen sie stets unbewaffnet. Aussagen, die sich mit dem Chat-Protokoll rasch widerlegen lassen.
Zu Beginn der Konfrontation wird noch alles abgestritten. Man habe zwar in diesem Chat geschrieben, aber selbst nichts «so Rechtsradikales». Eine Behauptung, die sich schnell als Lüge entlarven lässt. Denn trotz maskiertem Gesicht und Geheimnistuerei ist klar: Das ist «Snowman» und der schrieb im Chat: «Wir bräuchten einen zweiten Adolf Hitler, der hier alle Asylanten vergast und aufräumt.»
Betroffenes Schweigen. Dann das zögerliche Eingeständnis: «Das war nicht so gemeint.» Man sei zwar «rechts», aber nicht rechtsextrem. Was sie darin äussern, sei bloss Spass gewesen, versichern sie.
Ein gefährlicher Spass, urteilt Extremismusforscher Jérôme Endrass: «Hier geht es nicht um Kinderschutz, es geht um Gewalt.» Es sei so, dass ein beachtlicher Teil der Gewalttaten von Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren begangen werde. In diesem Alter suchten viele gezielt diese Action.
Paradoxe Brücken-Ideologie
Im Signal-Chat schreiben offenbar auch Mitglieder mit Migrationshintergrund mit. Wie kann es sein, dass hier Rechtsextreme, zugewanderte Personen und politisch Desinteressierte nebeneinander agieren? «Man trifft sich hier auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner», erklärt Endrass. Brücken-Ideologien nennt sich das.
Unter dem Slogan «gegen Pädophile» formiere sich so eine heterogene Masse, die sich in vielen anderen Fragen fundamental widerspreche. Würden diese Menschen jenseits des Themas Pädophilie miteinander über Politik oder Gesellschaft sprechen, wären sie wohl rasch zerstritten.
Zerstritten sind die Jugendlichen im Wald an diesem Tag noch nicht – doch sichtlich irritiert. Die Enthüllung ihrer Chatverläufe trifft sie unerwartet. Ob ihnen bewusst ist, dass ihr Handeln von Aussenstehenden eher als Ausdruck von Gewaltlust denn als Einsatz für den Kinderschutz gesehen werden kann? Einer nickt zögerlich: «Ein bisschen schon, ja.» Dann folgt wieder das altbekannte Mantra: Es gehe ihnen aber um den Schutz der Kinder.
Kurz nach der Konfrontation im Wald passiert, was passieren musste: Yannick hat den Chat verlassen, Snowman hat die Gruppe verlassen. Minuten später ist die Chatgruppe gelöscht – eine neue wahrscheinlich bereits erstellt, um die nächste Jagd zu planen.