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SRF DOK Das Grauen hinter sich lassen

Seit 3 Jahren begleitet Filmautorin Andrea Pfalzgraf die Familie von Kusai (12). Die syrische Grossfamilie hat viel Schlimmes erlebt und leidet an Heimweh. Kusai hat bis heute Albträume, die Erinnerungen an den Krieg verblassen kaum. Wie kann es ihm gelingen, hier Wurzeln zu schlagen?

Kusai erinnert sich

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Andrea Pfalzgraf arbeitet seit 2009 im «DOK» und «Reporter»-Team. Ihr liegen vor allem sozialpolitische Themen am Herzen.

Als ich die Familie Nasser kennen lernte, musste Basel, der Onkel und Bruder übersetzen. Heute sprechen die meisten der Grossfamilie schon so gut Deutsch, dass wir uns ohne Hilfe unterhalten können. Sie leiden an Heimweh, vermissen ihr Daheim, ihre Sprache, Verwandte, Nachbarn und Kollegen.

Sie alle, Erwachsene und Kinder, haben Dinge erlebt und gesehen, die ich mir schon gar nicht vorstellen kann. Zerfetzte Menschen. Nicht irgendwelche Unbekannte. Nein, Nachbarskinder, Arbeitskolleginnen, Lehrer ihrer Kinder. Ohnmächtig mussten sie zusehen. Ohnmächtig mussten sie Abschied nehmen von allem, was sie ausgemacht hat und aufbrechen in eine ungewisse Zukunft. Zuverlässigster Begleiter war die Angst.

Dankbarkeit und Demut

Die ersten deutschen Sätze waren: «Kein Problem.» «Danke, es geht uns gut». Sie sind dankbar und möchten sich nicht beklagen. Bei jedem Dreh bin ich zutiefst berührt, wie sie alle versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Und doch sind sie traurig und verletzt. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich plötzlich weg von hier müsste. Von meiner Familie, meinen Freundinnen, meiner Arbeit und von meiner Sprache und Kultur. Eine furchtbare Vorstellung.

Und doch geht es Millionen Menschen so aufgrund dieses unsäglichen Stellvertreterkriegs in Syrien.

Familie Nasser
Legende: Kusais Eltern beginnen in der Schweiz ganz von vorne. SRF

Kusai hat alle Fotos weggeworfen oder verbrannt

Kusai macht sich sehr viele Gedanken, die sich ein Kind in diesem Alter nicht machen sollte. Er kennt die Vorbehalte unserer Bevölkerung den Flüchtlingen gegenüber und ich habe keine Antwort auf seine Frage, warum wir ihnen so misstrauen? Angst vor dem Fremden, Unbekannten vielleicht, sage ich.

Wie ist das für diese Kinder in jungen Jahren, neue Wurzeln schlagen zu müssen? In einem Land, von dem man vorher noch nie gehört hat, und wo man zuerst einmal kein Wort versteht?

Kusai hat alle Fotos von Zuhause verbrannt und will nichts mehr vom Krieg hören. «Man kann nicht leben, wenn man immer die schlimmen Bilder anschaut», sagt er zu seinen Eltern, die ständig die Nachrichten aus Syrien verfolgen.

Kusai in seinem Zimmer
Legende: Kusai plagen in der Nacht Albträume. SRF

In Syrien konnte Kusai wegen des Krieges nur ein Jahr zur Schule gehen. In Köniz/BE gehört er inzwischen zu den Klassenbesten und möchte Arzt werden, weil er einfach helfen will. «Ich habe so viel Tote gesehen, weil es keinen Doktor mehr gab in Syrien», erklärt der Junge in breitem Berndeutsch.

Er leidet noch immer unter Albträumen und versteckt sich nachts unter dem Bett aus Angst vor den Bomben. Und der Junge hat keine Antwort darauf, warum ausgerechnet er all das Schlimme erleben musste.

Kusai bei «Aeschbacher»

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Kusai und seine Mutter sind im Anschluss an «Reporter», am 29. Januar 2017, um 22.05 Uhr, zu Gast bei «Aeschbacher»

Helfen, Wurzeln zu schlagen

Ich und wir alle in der Schweiz haben einfach Glück gehabt. Dass wir hier geboren wurden, ist reiner Zufall. Zum Glück hat es seit langer Zeit keinen Krieg gegeben. Von diesen Menschen ein bisschen Demut zu lernen, wäre hingegen eine Option.

Schon meine Eltern sind vor dem 2. Weltkrieg geflohen und meine 84-jährige Mutter zuckt heute noch zusammen, wenn sie das Motorengeräusch einer «Tante Ju» über sich hört. Das erinnere sie an die Bomber, sagt sie und zieht die Schultern heute noch hoch, weil die Angst geblieben ist. Über 70 Jahre nach Kriegsende.

«Reporter»

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Wie lange wird es dauern, bis Kinder des syrischen Krieges das Grauen hinter sich lassen können?

Helfen wir ihnen doch wenigstens soweit, dass sie wieder Wurzeln schlagen können und nicht am Trauma zerbrechen. Auch denjenigen, die nicht Klassenbeste werden und vielleicht etwas mehr Zeit brauchen, um anzukommen.

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