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SRF DOK Der chinesische Traum

China krempelt sich selbst um. Ein Dokfilm zeigt den radikalen Umbau der riesigen Stadt Datong, und wie sich ein hemdsärmeliger Bürgermeister ohne Rücksicht auf die tausenden Bewohner ein Denkmal setzt. Korrespondent Pascal Nufer sieht kein Ende des von oben verordneten Baubooms im Reich der Mitte.

Kein Land hat in so kurzer Zeit einen so grossen Sprung nach vorne gemacht, so viele Leute aus der Armut geführt, wie China in den letzten 20 Jahren. Figuren wie den hemdsärmeligen Bürgermeister der Stadt Datong, Geng Yanbo, gibt es im Reich der Mitte zuhauf. Sie verkörpern das, was der chinesische Staats- und Parteichef vor zwei Jahren zur neuen Maxime des Reiches der Mitte ausgerufen hat. Sie leben den «Chinesischen Traum». Ein Motto, das man bisher aus den USA kannte.

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Pascal Nufer ist seit März 2014 SRF-Korrespondent in China mit Sitz in Shanghai.

Kaum je zuvor ist es einem Filmemacher gelungen, das chinesische Verständnis dieses Traumes so facettenreich einzufangen, wie dem Regisseur Hao Zhou, der Geng Yanbo hautnah begleitet. Er fokussiert dabei auf den Gewinner, ohne dabei die tausenden Verlierer, die für den chinesischen Fortschritt typisch sind, aus den Augen zu verlieren.

Die staatlichen Medien zeigen des Öfteren solche Erfolgsmenschen. Die Verlierer des Fortschritts sind in Chinas zensierten Medien aber selten präsent. Sie gibt es offiziell so gut wie nicht. Es sind die Menschen, die nicht gefragt werden, wenn auf dem Reissbrett ein neuer Stadtteil für 100’000 Einwohner entsteht. Wie zum Beispiel die Menschen in Datong, die für ein Bauwerk eines grössenwahnsinnigen Neureichen ihre Lebensgrundlage verlieren.

Eine Frau und ein Mann diskutieren. Sie sind umgeben von anderen Menschen auf der Strasse.
Legende: Eine Bürgerin beklagt sich bei Bürgermeister Geng Yanbo. SRF

Retter der Stadt

Als Geng versetzt wird, und der Film endet, gehen tausende Bewohner in Datong auf die Strasse. Auf ihren Spruchbändern geben sie nicht etwa der Freude Ausdruck, dass die gnadenlose «Abbruchbirne» nun endlich weiterzieht, sondern sie bedauern seinen Abgang und feiern ihn als den grossen Retter der Stadt.

Kritische Stimmen gibt es auf diesen Veranstaltungen nicht, obwohl sie in der Realität existieren. Sie melden sich dafür in Chinas sozialen Netzwerken. Nicht wenige sind überzeugt, dass die Demonstrationen zu Gengs Abgang inszeniert sind. Denn der chinesische Traum kennt keine Verlierer, erlaubt sind nur Gewinner.

Und so zieht Geng weiter und sein Ruf mit ihm. Drei Jahre sind seither vergangen. Die Mauer hat sein Nachfolger fertigstellen müssen. Die oberste Tourismusbehörde Chinas hat sie zu einer Touristenattraktion von nationaler, historischer Bedeutung erklärt und karrt seither täglich tausende Touristengruppen mit wehenden Fähnchen dorthin. Laut lokalem Statistikamt sollen bald schon eine Million Touristen die neue Mauer in Datong besichtigt haben, überprüfen lässt sich die schwer nachvollziehbare Zahl kaum.

In einer chinesischen Stadt werden Häuser abgerissen.
Legende: Wo Bürgermeister Geng auftaucht, bleibt kein Stein auf dem anderen. SRF

Offensichtlich ist, wofür die Stadt Datong heute stehen soll. Sie ist ein Bollwerk der unbegrenzten Möglichkeiten, zumindest für die, die den Segen der Partei geniessen.

Und Geng? Er schwingt seine Abbruchbirne weiter. In seiner neuen Stadt Taiyuan hat er angeblich bereits fünf Quadratkilometer Land dem Erdboden gleich gemacht. Sein Ziel ist es, bis in zwei Jahren mehr als 7,5 Quadratkilometer komplett umzupflügen. Das ist etwa die Fläche des Ägerisees.

Das Mega-Parlament

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Jedes Jahr im März tagt der Nationale Volkskongress in China. Mehr als 3000 Delegierte billigen die Pläne der Regierenden. Die wesentlichen Entscheide trifft vorab das Politbüro.

Grosses Thema am Volkskongress

Gengs Städteplanung ist exemplarisch für den Umbau Chinas, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Wenn sich in der Halle des Volkes ab kommendem Samstag (5. März 2016) die 3000 Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses treffen, steht die Urbanisierung auch in diesem Jahr wieder hoch auf der Agenda.

Der grosse Marsch vom Land in die Stadt ist noch lange nicht abgeschlossen. Aus Millionenstädten sollen in den nächsten Jahren sogenannte Cluster von bis zu 100 Millionen Einwohnern werden, umgesetzt von Bürgermeistern wie Geng Yanbo. Was genau diskutiert wird in Chinas Scheinparlament, bleibt uns Journalisten meist verborgen. Immerhin bietet der Kongress die seltene Möglichkeit, dass auch ich als ausländischer Korrespondent einmal im Jahr die Luft des chinesischen Machtzentrums schnuppern darf.

Der Zutritt zur Grossen Halle des Volkes ist uns sonst verwehrt. Wenn Chinas Feigenblatt-Parlament tagt, soll das die Welt sehen. Die Regierung will damit zeigen, dass selbst im streng von oben herab regierten China debattiert werden kann, auch wenn die Beschlüsse längst gefasst sind.

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