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SRF DOK Radikalisierung im Kinderzimmer

Vor sechs Jahren fürchtete das Schweizer Stimmvolk den Bau von Minaretten, heute geht die Angst um vor Dschihadisten. Karin Bauer hat 2010 den Dokumentarfilm «Hinter dem Schleier» realisiert und recherchiert jetzt über Gotteskrieger, die schon in jungen Jahren angeheuert wurden.

Einer meiner Protagonisten von damals war Aziz O., Sekretär eines muslimischen Verbandes in Basel. Als Teenager hatte er Party gemacht und war in Schlägereien involviert, heute trägt er Bart, Käppchen und ein weites, weisses Gewand.

Von seiner Frau sieht man auf der Strasse nur Augen und Nase durch den Schlitz ihrer Burka, und seine Töchter dürfen nicht zum Schulschwimmunterricht.

Fliessende Grenzen von Salafist zu Dschihadist

Ich hatte es mit einem Salafisten zu tun, also einem Muslimen, der die überlieferten Aussagen des Propheten Mohammed möglichst wortgetreu wie im 7. Jahrhundert ausgelegt haben will. Bei den Dreharbeiten 2010 schien der Sozialhilfeempfänger ein Exot zu sein – heute aber ist das Wort «Salafismus» in aller Munde.

Viele setzen es fälschlicherweise mit Dschihadismus gleich. Dabei unterscheiden Islamkenner zwischen drei Sorten von Salafisten:

  • Die meisten führen ein bis auf ihre Kleidung unauffälliges und gewaltfreies Leben.
  • Eine zweite Kategorie sind politische Salfisten, die einen islamischen Staat anstreben.
  • Dschihadisten machen die kleinste Gruppe aus, dem Schweizer Nachrichtendienst sind 68 Gotteskrieger bekannt. Der Fokus aber liegt auf ihnen , auch weil die Grenzen unter den Salafistengruppen fliessend sind.

Radikale Imame: Früher arabisch, heute aus dem Balkan

Im Jahr 2010 wurden wir Zeuge von radikalen Predigten in zwei arabischen Moscheen. Der Wahabismus (ähnlich dem Salafismus) stammt aus Saudi Arabien. Heute aber gelten eher vereinzelte Moscheen aus dem Balkan als radikal: Im Zuge des bosnischen Bürgerkriegs ist der Wahabismus auf Europa übergeschwappt.

In die Schlagzeilen geraten sind der kosovarische Imam Mazllam Mazllami, der 2013 in einer Moschee in Liestal gegen die Heirat zwischen Muslimen und «Ungläubigen» wetterte und der bosnische Imam Bilal Bosnic, der in einer Moschee in Wallisellen den Märtyrertod gepriesen hat.

Sie pendelten mit 3-Monats-Visa zwischen der Heimat und der Schweiz. Letzten Herbst wurden beide von der kosovarischen Polizei verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, junge Kämpfer für den Islamischen Staat angeworben zu haben.

Scham, Ohnmacht, Wut

Ich habe mit Angehörigen von jungen Muslimen gesprochen, die nach Syrien gegangen sind. Es sind Migranten aus dem Balkan und der Türkei.

Sie leben in gesichtslosen Blockwohnungen in städtischen Vororten. Die Eltern arbeiten entweder beide ganztags in Tieflohnjobs, oder sie leben von Sozialhilfe und sprechen auch nach Jahrzehnten kein Deutsch. Allen gemeinsam ist die Scham, nicht gehandelt zu haben.

«Natürlich merkten wir, dass sich im Leben unseres Sohnes alles nur noch um den Islam drehte.» Das sagen sie und klingen dabei entnervt. Aber das heisse doch nicht automatisch, dass das Kind nach Syrien abreise.

Auf alle Fragen eine Antwort – gemalt in schwarz und weiss

Die jungen Kämpfer, über die ich recherchiere, waren Einzelgänger. Im Teenageralter stellte sich ihnen die Sinnfrage als Migranten zwischen den Stühlen der alten und neuen Heimat.

Der Salafismus bietet zugleich Geborgenheit in der Gruppe und Lebenshilfe: Er malt die Welt in schwarz und weiss und hat auf alle möglichen und unmöglichen Fragen eine Antwort. «Dürfen Muslime Silvester feiern?» Oder: «Darf die Frau ohne die Erlaubnis ihres Mannes aus dem Haus gehen?»

Im Internet radikalisiert

Er habe Allah im Netz gefunden, sagt ein türkischer Migrant in einer Videobotschaft. Danach habe er Tag und Nacht nur noch Youtube-Videos von salafistischen Predigern geschaut. An einer Lehrstelle war er nicht interessiert, ebenso wenig wie andere, die ihre Lehre schmeissen, nachdem sie mit der Koranlektüre begonnen haben.

Nach rund zwei Jahren bestieg der Türke im Alter von 18 Jahren ein Flugzeug. In der Hand ein oneway-Ticket nach Hatay, einer türkischen Stadt an der Grenze zu Syrien.

Das Leben hat «nicht einmal den Wert einer Mücke»

So wie er schauen viele Salafisten in der Schweiz Youtube-Videos der deutschen Organisation «Die Wahre Religion». Dahinter steht der radikale Salafist Ibrahim Abou-Nagie. Sein Weltbild teilt sich in Muslime und «Kuffar», die Ungläubigen.

Die Youtube-Videos seiner Prediger sprechen meist von der Apokalypse: Mit dramatischer Musik und Knalleffekten unterlegt sind Warnungen in schlechtem deutsch: «Das diesseitige Leben hat nicht einmal den Wert einer Mücke, es ist minderwertig!» Und: «Der Boden der Ungläubigen ist aus Höllenfeuer (…) sie können nicht flüchten!»

Skrupellos kämpfen und als Märtyrer sterben

Der Islam wird also missbraucht, um jungen Menschen Angst einzujagen, und sie zu radikalisieren. Wer nur fürs Jenseits lebt, kann leichter für den Märtyrertod im Kampf gewonnen werden. Abou-Nagie: «Am jüngsten Tag wird der Märtyrer Sicherheit haben». Er bekomme die Krone Allahs und werde 72 Frauen heiraten. «Möge Allah uns alle als Märtyrer sterben lassen!»

Der französische Islamkenner Olivier Roy vergleicht die jungen IS-Kämpfer aus Europa mit den RAF-Terroristen der 68er Bewegung. Beide im Krieg mit dem westlichen System, beide skrupellos im Töten von Menschen, um ihre ideale Welt zu erreichen; sei es der Marxismus oder einen islamischen Staat mit Scharia.

Beeinflussung in Hinterhofmoscheen

Karin Bauer

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Während drei Jahren war Karin Bauer Korrespondentin in New York. Sie arbeitet seit 1994 bei SRF und recherchiert derzeit für einen eigenen Film über Dschihadisten in der Schweiz. 2010 hat sie den Dokumentarfilm «Hinter dem Schleier» realisiert.

Videos alleine bringen die Jugendlichen aber nicht dazu, ihr Leben in Syrien zu riskieren. Die mir bekannten Fälle haben sich alle auch an Koran-Verteilaktionen von «Lies!» beteiligt. Dahinter steht: «Die wahre Religion».

Einen starken Einfluss üben auch ältere Salafisten aus, die die Jugendlichen in Hinterhofmoscheen kennen lernen. Diese älteren Salafisten nehmen sich ihrer an, scheinen nicht mehr von ihrer Seite zu weichen.

Näheres will niemand wissen

«Gehirnwäsche», sagen die Angehörigen, die nicht mitbekommen haben wollen, mit welchen Freunden sich ihre Kinder und Geschwister getroffen haben. In einigen Fällen scheinen die Radikalisierer aus Deutschland zu stammen. Näheres weiss niemand. Näheres will niemand wissen.

Der 18-jährige Türke rufe seiner Mutter alle zwei Wochen aus Syrien an, sagen Familienmitglieder. Er trainiere an der Waffe, und es gehe ihm gut. Er habe seinen Weg gefunden: «Hier werde ich sterben».

(Die drei Videoausschnitte sind aus dem DOK-Film «Verführt im Namen Allahs – Europas junge Salafisten» vom Donnerstag, 11. Juni 2015, 20:05 Uhr, SRF 1)

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