«Er wird so selten beim Namen genannt», erzählt Sarah am Geburtstag ihres verstorbenen Sohnes Lennard. Jedes Jahr, am 24. August, feiern sie und ihr Mann Phil den Geburtstag ihres Sternenkindes. Am Friedhof, bei seinem Grab, lassen sie Ballone steigen und freuen sich, wenn auch andere an diesen Tag denken. Auch wenn es jedes Jahr weniger werden, die sich an seinen Geburtstag erinnern.
Häufig wünschen sich Eltern von Sternenkindern, dass ihre verstorbenen Kinder einen sichtbaren Platz in der Gesellschaft behalten, dass ihre Kinder beim Namen genannt werden, nicht vergessen gehen. «Oft wird es so nett umschrieben mit: Das, was euch passiert ist, ist nun schon ein paar Jahre her.»
Beerdigung eines ungeborenen Kindes planen
Die Zeit vergeht – die Erinnerung an Lennards Tod bleibt präsent: Sieben Tage vor dem Geburtstermin wacht Sarah auf und bemerkt, dass Lennard sich nicht mehr bewegt. Sie versucht sich zu beruhigen, redet sich ein, dass Babys kurz vor der Geburt oft weniger aktiv seien.
Als zwei Tage später immer noch keine Bewegung zu spüren ist, wächst die Angst. Als Sarah und ihr Mann Phil ins Spital gehen, muss ihnen die Ärztin mitteilen, dass das Herz von ihrem Sohn nicht mehr schlägt.
Sarah möchte am liebsten sofort einen Kaiserschnitt, hört jedoch auf den Rat der Ärztin, Lennard natürlich auf die Welt zu bringen. Bei einer Totgeburt geht es letztlich auch darum, eine Risikoabwägung zu treffen. Ob eine Totgeburt oder ein Kaiserschnitt für die Mutter die beste Option ist, wird von Frau zu Frau, von Situation zu Situation entschieden.
Ich sass hochschwanger im Büro des Bestatters und plante die Beerdigung von meinem toten Sohn im Bauch.
Aus psychologischer Sicht wird den Müttern geraten, ihr totes Kind auf natürlichem Weg zur Welt zu bringen. Das ermögliche es Frauen, den Verlust ihres Kindes langfristig emotional besser zu verarbeiten. Bei Sarah dauert es fünf Tage, bis es so weit ist.
Fünf Tage, in denen Sarah Abschied nimmt von ihrem Sohn, dessen Füsse die Erde nie berühren werden. «Ich sass hochschwanger im Büro des Bestatters und plante die Beerdigung von meinem toten Sohn im Bauch.»
Lennard wird einige Tage später, am 24. August 2017, geboren. Phil wäscht das Baby und zieht es an – ein wichtiger Moment, den er alleine mit seinem Sohn erlebt. Erst am Abend traut sich auch Sarah, Lennard anzusehen. Mithilfe einer Freundin, die sie Schritt für Schritt zu Lennard führt.
Am nächsten Tag beginnen die Eltern, Erinnerungsstücke zu sammeln. Sie lassen Fussabdrücke und Fotos machen; es entsteht das einzige Familienbild mit Lennard: «Erinnerungsstücke sind das einzig Greifbare, das wir von ihm haben. Und auch ein wenig der Beweis, dass es ihn wirklich gab», erzählt Sarah.
Unklare Todesursache
In der Schweiz werden jedes Jahr ungefähr 350 Totgeburten verzeichnet. Babys können aus verschiedenen Gründen im Bauch der Mutter sterben: Sie erhalten zu wenig Sauerstoff, die Nabelschnur verknotet sich, die Plazenta löst sich ab oder die Mutter erleidet eine akute Schwangerschaftsvergiftung.
Doch es kann auch sein, dass die Ursachen unklar bleiben, wie bei Sarah und Phil. Sie wissen bis heute nicht, woran Lennard gestorben ist. Eine Autopsie wollten sie nicht.
Wieder zu Hause wartet das leere Kinderzimmer. Die Monate nach Lennards Tod sind eine Ausnahmesituation für die Familie. Sarah verbringt ihren «Mutterschaftsurlaub» alleine, Phil muss zur Arbeit. Im Fall einer Totgeburt erlischt in der Schweiz der Vaterschaftsurlaub, zumindest ist das Gesetz bis jetzt so.
Stirbt das Kind kurz vor, während oder nach der Geburt, reagiert der Körper der Mutter gleich wie nach der Geburt eines lebenden Kindes. Sarah hat noch im Spital Abstill-Tabletten erhalten. Trotzdem sieht sie unter der Dusche Milch aus ihrer Brust kommen und fragt sich traurig «für wen?».
Trauer und neue Hoffnung
«Bis zu Lennard habe ich nie gelernt, mit dem Tod umzugehen … und dann musste ich halt auf einmal, ob ich wollte oder nicht. Und ich muss sagen: Ja, vielleicht war das so mein Weg», reflektiert Sarah. Für diesen Weg holt sie sich Unterstützung bei einer Trauerbegleiterin.
Das Leben war plötzlich so fragil.
Einige Monate nach Lennards Tod wird Sarah wieder schwanger. Es sind neun Monate, begleitet von ständiger Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. «Das Leben war plötzlich so fragil.»
Umso grösser die Erleichterung, als ihre Tochter Lia schliesslich gesund zur Welt kommt. Drei Jahre später erwartet Sarah erneut ein Kind, und obwohl Lia gesund und munter ist, schläft Sarah auch bei ihrer dritten Schwangerschaft jeden Abend mit Angstgefühlen ein.
Wie Lennard und Lia wird auch der kleine Bruder Leon an einem Donnerstag im August geboren. Von Anfang an erzählen die Eltern den Kindern von Lennard, er ist Teil der Familie. Nicht nur an Lennards Geburtstag besuchen sie sein Grab, das auf einem Friedhof ganz in der Nähe von ihrem Zuhause liegt.
«Heute ist Lennards Garten, so nennen wir sein Grab, ein Ort, der mir Kraft gibt und den ich auch vor wichtigen Entscheidungen oder Momenten im Leben besuche», sagt Phil.
Und Sarah bemerkt rückblickend: «Der Tod von Lennard hat unser Leben grundlegend verändert. Es gibt ein Leben vor ihm und ein Leben nach ihm.»
Der Trauer Raum geben
Nach Lennards Tod entscheidet sich Sarah für einen Richtungswechsel in ihrem Leben. Sie beginnt selbst eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin. Um Rituale und Prozesse rund um Tod und Abschied besser zu verstehen, gehört zur Ausbildung auch eine Art Praktikum bei einem Bestatter: Sarah entscheidet sich für den Mann, der damals ihren Sohn Lennard bestattet hat.
Sie assistiert ihm bei der Versorgung einer Verstorbenen, um später Angehörige im Todesfall besser informieren und behutsamer begleiten zu können.
Heute arbeitet Sarah als Trauerbegleiterin für den Verein Himmelskind in den Kantonen Aargau und Solothurn. Sie leistet Akuthilfe, begleitet Betroffene ins Spital, unterstützt sie aber auch in den Wochen danach.
Zudem bietet Sarah einmal im Monat zusammen mit einer Kollegin für den Verein Himmelskind das sogenannte «Sternensofa» an: Eine Austauschgruppe für Eltern und Angehörige, die ein Kind verloren haben.
Bei der Totgeburt ihres Kindes waren Sarah und ihre Familie auf sich alleine gestellt. Eine Trauerbegleiterin an ihrer Seite gehabt zu haben, hätte ihr damals sicher geholfen, ist Sarah überzeugt: «Es gibt so viele Möglichkeiten, von denen ich damals nicht wusste. Zum Beispiel, dass du dein verstorbenes Kind mit nach Hause nehmen kannst, bevor es bestattet wird.»
Erinnern und nicht Vergessen
Dieses Jahr haben Lia und Leon zum Geburtstag von Lennard Zeichnungen gemacht. Beim gemeinsamen Besuch am Grab ihres grossen Bruders, schicken sie ihre Geschenke, an Ballonen festgebunden, hoch in den Himmel.
Nicht selten sind Angehörige, Freundinnen, Freunde mit den Trauernden überfordert. Es helfe, diese Überforderung anzusprechen, ist Sarah überzeugt. Nichts sei schlimmer, als wenn einfach geschwiegen werde oder Sätze fielen wie «ihr habt ja jetzt zwei Kinder» oder «ist ja schon ein paar Jahre her».
Sarah und Phil geht es ums Erinnern und nicht ums Vergessen: «Die Geschwister von Lennard sind kein Ersatz für ihn, er wird immer fehlen.»