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Jamie Russo erlitt in der 11. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt
Aus Regionaljournal Aargau Solothurn vom 04.04.2024. Bild: SRF/Fabienne Huber
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Sternenkinder «Das Thema Fehlgeburt existierte für mich nicht»

Eine von sechs schwangeren Frauen verliert in den ersten Wochen ihr Kind. Für sogenannte Sternenkinder setzen sich immer mehr Spitäler ein. Auch in der Politik ist das Thema angekommen.

Es passierte am Tag der Dreimonatskontrolle. An jenem Tag, an dem Jamie Russo der ganzen Welt erzählen wollte, dass sie schwanger ist. Die damals 26-Jährige sitzt auf dem Untersuchungsstuhl beim Frauenarzt und blickt wie betäubt auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts. Da ist dieses kleine Wesen zu sehen, das regungslos in ihrer Gebärmutter hin- und herschwebt.

«Oh, das tut mir leid.» Die Worte des Frauenarztes hört Jamie Russo nur noch von ganz weit weg. Ihr wird schwarz vor Augen. Die heute 39-Jährige fiel aus allen Wolken. «In den Schwangerschaftsbüchern habe ich die Kapitel über Fehlgeburt übersprungen. Fehlgeburt – dieses Thema existierte für mich nicht.»

Jede 6. Schwangerschaft endet in einer Fehlgeburt

Mit ihrem Schicksal ist Jamie Russo nicht alleine. Schätzungen gehen davon aus, dass es zwischen der 5. und 12. Schwangerschaftswoche bei jeder sechsten Frau zu einer Fehlgeburt kommt. Wie hoch dieser Prozentsatz wirklich ist, ist unklar. Gerade bei frühen Fehlgeburten wissen die betroffenen Frauen häufig gar nicht, dass sie schwanger sind, und halten die Blutung für eine verspätete Regelblutung.

Eine Grafik, die die Risiken einer Fehlgeburt aufzeigt.
Legende: SRF

Stirbt ein Kind noch während der Schwangerschaft, spricht man von Sternenkindern. Die betroffenen Mütter und Väter müssen nach dem Verlust des ungeborenen Kindes nicht nur mit ihrer Trauer umgehen, sondern sich auch entscheiden, ob – und falls ja, wie – das Kind bestattet werden soll.

Ein Kind, das nicht meldepflichtig ist, existiert rechtlich gesehen nicht.
Autor: Anne Siegenthaler Verantwortliche Beratungsdienst kindsverlust.ch

Gerade bei Fehlgeburten vor der 23. Schwangerschaftswoche kann das schwierig werden. Denn früh verlorene Kinder dürfen im Schweizer Rechtssystem nicht ins Personenregister eingetragen werden. Das heisst, sie sind nicht meldepflichtig. «Ein Kind, das nicht meldepflichtig ist, existiert rein rechtlich gesehen nicht», erklärt Anne Siegenthaler, Verantwortliche des Beratungsdienstes der Fachstelle kindsverlust.ch.

Nur wer im Personenregister eingetragen ist, hat in der Schweiz auch das Recht auf eine Bestattung. Ob Eltern ihr Kind nach einer Fehlgeburt bestatten dürfen, hängt darum in den meisten Kantonen von den Bestimmungen der Gemeinde ab.

Solothurn führt kantonale Regelung ein

Die Kantone Zürich, Waadt und Jura haben schon seit Längerem eine kantonale Regelung eingeführt. Damit wissen betroffene Eltern, dass sie ihr Kind in jeder Gemeinde bestatten dürfen. Nach einem Vorstoss der EVP ist das künftig auch in Solothurn kantonal geregelt.

Vor dem einstimmigen Entscheid fielen emotionale Voten im Saal: «Aus einem Moment des Glücks wird man mit einem Schlag in die tiefste Verzweiflung geschickt», sagte FDP-Kantonsrat Markus Spielmann und fragte: «Was ist das für eine archaische Rechtsordnung, die deinem totgeborenen Kind die Menschenwürde abspricht und damit das Recht auf eine schickliche Bestattung?»

Ein Friedhof, hinten im Bild viele Blumen und Windräder.
Legende: Die Bestattung von frühen Fehlgeburten ist in Basel seit 2017 auf dem Friedhof Hörnli möglich. SRF

Die Bestattung von Sternenkindern ist auch ohne die kantonale Regelung in den meisten Gemeinden möglich – das zeigt eine Umfrage vom SRF Regionaljournal Aargau Solothurn. Dennoch sei es ein wichtiger Schritt für die Anerkennung der Betroffenen – da sind sich die Politiker und Politikerinnen im Solothurner Kantonsrat einig. Sie stimmten geschlossen für eine kantonale Regelung.

Anne Siegenthaler von der Fachstelle kindsverlust.ch kennt aber auch andere Fälle. «Mütter wurden abgewiesen, weil es die Möglichkeit der Bestattung auf dem Friedhof ihrer Wohngemeinde nicht gibt. Sie mussten ihr Kind in einer anderen Gemeinde bestatten.» Das sei enorm schwierig in einer Zeit, wo Betroffene die Energie für die Bewältigung ihrer Trauer bräuchten.

Umgang in den Spitälern sehr unterschiedlich

Auch bei Jamie Russo läuft es nach der Fehlgeburt anders, als sie es sich gewünscht hätte. Statt ihr verstorbenes Kind natürlich zu gebären, muss sie eine Curettage (Ausschabung) durchführen lassen. Ein Eingriff, bei dem das Kind operativ aus der Gebärmutter entfernt wird.

Krankenkassen und frühe Fehlgeburten

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Legende: Getty Images/Yiu Yu Hoi

Ab der 13. Schwangerschaftswoche kommen die Krankenkassen vollständig für die Kosten der Mutter auf. Die Krankenkassen zahlen für Kontrolluntersuchungen, die Geburt oder Stillberatung, und zwar, ohne den Selbstbehalt oder die Franchise zu verrechnen.

Vor der 13. Woche wird die Kostenbeteiligung nur erlassen, wenn alles gut läuft. Wer vor der 13. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt oder Komplikationen erleidet, muss wegen Franchise und Selbstbehalt Rechnungen bis zu 3200 Franken pro Jahr selbst bezahlen.

Das kritisiert Irene Kälin, Nationalrätin der Grünen, und reichte deshalb vor vier Jahren eine Motion im Nationalrat ein. «Faktisch ist das Gesetz eine riesige Diskriminierung für alle, die ihr Kind im ersten Schwangerschaftsdrittel verlieren.» Irene Kälin fordert deshalb, dass medizinische Leistungen der Schwangerschaft vom ersten Tag an von allen Kosten befreit werden.

Über die Möglichkeit einer Bestattung wird Jamie Russo nicht informiert. «Ich musste sogar aktiv darum bitten, dass ich die Überreste meines Kindes erhalte», erzählt die 39-Jährige. Als sie aus der Narkose aufwacht, steht auf dem Nachttisch neben ihr ein Plastikbehälter mit einem weissen Deckel. Darin ist das Kind, das sie verloren hat. «Ich hätte mir eine schönere und würdevollere Übergabe gewünscht.»

Eine Wiese und in der Mitte ein kleines Bäumchen. Davor ist eine Keramikfigur eines Babys.
Legende: Unter diesem Feigenbaum liegt das Kind von Jamie Russo im Garten begraben. Für sie war es wichtig, dass sie einen Ort hat, an dem sie um das verlorene Kind trauern kann. ZVG

Dass die Eltern nicht aufgeklärt werden, dass sie das verstorbene Kind mit nach Hause nehmen können, kann heute noch vorkommen, kritisiert Anne Siegenthaler von der Fachstelle kindsverlust.ch. «Wenn die Mütter ihre früh verstorbenen Kinder nicht mit nach Hause nehmen, werden diese zum Teil mit dem medizinischen Abfall entsorgt.»

Umdenken in Spitälern findet statt

Es gebe inzwischen aber auch Spitäler, die behutsamer mit diesem Thema umgingen, betont Anne Siegenthaler. «Dort wird besprochen, wie das Kind übergeben wird. Vielleicht in einer selbst gestalteten Schachtel oder einem Körbchen.»

Gewisse Spitäler organisieren auch Bestattungen für Fehlgeburten und bieten auf dem Spitalgelände eine Gedenkstätte an, wo die Eltern ihre Kinder bestatten können.

Der Park vor dem Kantonsspital. Zu sehen sind Säulen aus Stein mit Kerzen und Andenken an verstorbene Kinder.
Legende: Das Kantonsspital Baden (AG) nahm im Umgang mit Sternenkindern eine Pionierrolle ein. Im Jahr 2006 war es das erste Spital in der Schweiz, das eine Gedenkstätte für Fehlgeburten einrichtete. Seither werden regelmässig auch Gedenkfeiern mit den Angehörigen der verstorbenen Kinder organisiert. ZVG/Kantonsspital Baden

Auch im Kantonsspital Olten herrscht ein behutsamer Umgang mit Fehlgeburten und mit den Eltern des verstorbenen Kindes. Die leitende Hebamme, Christine Kaufmann, setzt sich für die Interessen der Betroffenen ein. «Ab der sechsten oder siebten Schwangerschaftswoche kann man die Herztöne eines Babys hören», betont sie. «Darum ist es für mich von Anfang an ein Mensch.»

Für die Begleitung arbeitet die Abteilung von Christine Kaufmann mit dem Verein Stärnechind zusammen. Der Verein stellt für fehl- und stillgeborene Kinder Kleider oder Abschiedskörbchen her, wo das verstorbene Kind hineingebettet wird.

Eine Kartonbox, darin und daneben eine Plastikbox mit Nuscheli und Babykleidung.
Legende: Der Verein Stärnechind beliefert zig Schweizer Spitäler und Geburtshäuser. Die Erinnerungsboxen sollen den Eltern die Zeit der Trauer erleichtern, heisst es auf der Homepage. ZVG/Stärnechind

Zusammen mit einer Projektgruppe hat sich Christine Kaufmann dafür eingesetzt, dass auf dem Friedhof in Olten ein Grabfeld für Sternenkinder eingerichtet wird. Nach zweijähriger Planung soll es im August dieses Jahres eröffnet werden. «Ab dann können Eltern ihre Sternenkinder in Olten auch in einem Einzelgrab beerdigen.» Heute ist nur eine Beerdigung im Gemeinschaftsgrab möglich.

«Jeder Mensch hat ein Recht auf eine Beerdigung und einen Ort, an dem man um ihn trauern kann», betont Christine Kaufmann.

Das verlorene Kind ist im Herzen dabei

Jamie Russo hat ihr Kind im Garten beerdigt. An der Stelle wächst jetzt ein Feigenbaum. Den Verlust ihres ersten Kindes konnte sie inzwischen gut verarbeiten. Am Anfang sei es für sie ein harter Schlag gewesen. Aber: «Ich hatte enorm viel Unterstützung aus meinem Umfeld», betont Jamie Russo. Drei Monate nach der Fehlgeburt im Jahr 2011 wurde Russo wieder schwanger, und dieses Mal ging alles gut. Inzwischen ist die 39-jährige Mutter von vier gesunden Kindern. Und das fünfte Kind, das das Erste hätte sein sollen, sei im Herzen immer mit dabei.

Hinweis der Redaktion

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In einer ersten Version haben wir den Kanton Aargau in der Übersichtsgrafik zu jenen Kantonen gezählt, in denen eine kantonale Regelung eingeführt wird. Der entsprechende Vorstoss im Parlament wurde jedoch wieder zurückgezogen.

SRF Regionaljournal Aargau Solothurn, 4.4.2024, 17:30 Uhr;kobt

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