Crack ist billig und macht extrem schnell süchtig. Und es ist in der Schweiz so leicht zu bekommen wie noch nie.
Konsumiert wird die Droge inzwischen in vielen Städten, mitten in der Öffentlichkeit. Das Phänomen breitet sich aus, nicht nur in Zürich, Genf, Basel und Lausanne. Auch kleinere Städte wie Luzern, Chur, Brugg, Olten oder Solothurn sind betroffen. Die Herausforderungen sind nicht überall dieselben, aber vielerorts ist die Bevölkerung beunruhigt und das Thema zieht politische Aufmerksamkeit auf sich.
Hinter den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen verbergen sich menschliche Schicksale. Crack-Süchtige leben am Rand der Gesellschaft.
SRF-Reporterin Rahel Lenz hat drei von ihnen über viele Monate in Olten begleitet und ihre Sorgen und Nöte, aber auch ihre kleinen Freuden kennengelernt (Videoreportagen unten im Artikel). Joost, Marc und Jean-Pierre sind drei von mehreren tausend Betroffenen in der Schweiz. Tendenz steigend.
«Das Crack ist ein Zwang, es macht dich kaputt», sagt Joost, 32. Er wächst zusammen mit drei Brüdern in einer Ärztefamilie in Holland auf. Dann, als Joost 9 Jahre alt ist, zieht die Familie nach Olten, der Beruf der Eltern bestimmt den Ort. «Ich fühlte mich oft wie das 5. Rad am Wagen», sagt Joost über seine Jugend. Dann, mit 15, kommt das Cannabis, er experimentiert auch mit anderen Drogen. Und fühlt sich plötzlich zugehörig. Er beginnt eine Lehre als Elektroinstallateur und arbeitet 15 Jahre im Beruf. Der Konsum ist zwar Begleiter, aber kein Zerstörer. Noch nicht.
2022 zerbricht alles.
Ein Autounfall an der Côte d’Azur löscht seine gesamte Familie aus. Joost greift zum Crack. Von da an geht es schnell: Job weg, Wohnung weg, Halt weg. Joost landet auf der Strasse, die Not macht ihn kriminell. «Wegen einem Diebstahl im Denner landete ich 8 Monate im Gefängnis». Ein erster Entzug scheitert. Die Trauer ist zu gross, die Leere tief. Joost schafft es nicht zurück in sein normales Leben. Doch der Wille ist da. Heute steht er erneut vor dem Entzug, in ein paar Wochen soll es losgehen. «Ich will an mir und meiner Psyche arbeiten», sagt er. Joost wünscht sich ein Zuhause und eine Arbeit. «Ich will einfach wieder ein aktives Mitglied dieser Gesellschaft sein».
«Kaum hast du geraucht, willst du den nächsten. Ein ewiger Kreislauf.» Marc, 38, ist in Winterthur aufgewachsen, mit seinem Zwillingsbruder und einer Mutter, die Kontrolle über Vertrauen stellte. Draussen spielen? Das war nur selten erlaubt. Kindheit bedeutete für Marc Langeweile, Einsamkeit und Gewalt. Beim Vater durfte er wenigstens die Gummibärenbande schauen.
Doch bald ging es ins Heim, ab 14 Jahren auf die Gasse. Heroin, später Crack. Dann ein Moment des Lichts: Marcs Jugendliebe. Beide träumten vom Auswandern. Doch sie litt an Borderline und nahm sich mit 15 Jahren das Leben. «Ich vermisse sie immer noch», sagt Marc auch 20 Jahre danach.
Diese Erfahrung bricht den Jugendlichen.
Gefängnisse, Entzüge, Kriminalität und dazwischen immer wieder Drogen. In Olten beginnt er, Heroin mit Kokain zu mischen. Ein Tanz mit dem Tod. Crack macht ihn zum Getriebenen. Die Wohnung verliert er, lebt fortan in einem Abbruchhaus, ohne Toilette, ohne Hoffnung. «Ich habe das Herz am rechten Fleck, aber der Konsum hat mich zu einem Aussenseiter gemacht.» Kein Job, keine Zukunft. «Ich werde behandelt wie Abschaum.» Marc hat wieder Probleme mit der Polizei. Muss er ein weiteres Mal zurück ins Gefängnis? Vielleicht. «Dort kann ich mich wenigstens wieder fangen.» Entzug? Schulterzucken. Ratlosigkeit. Und der Kreislauf dreht weiter.
«Man verkauft für den Stoff seine eigene Seele», sagt Jean-Pierre, 53. Aufgewachsen im Kanton Bern, mit Vater, Mutter und einer jüngeren Schwester. Man geht fischen und Skifahren, eine scheinbar glückliche Kindheit. Er lernt Bäcker-Konditor, liebt seinen Beruf.
Die Idylle hält nicht. Während der Lehre wird Jean-Pierre in den Ferien von zwei Männern sexuell missbraucht.
«Das hat viel Schaden angerichtet.» Heroin hilft den Schmerz zu betäuben. Die Freundin stellt ihn vor die Wahl: «Versuch’s mit mir, sonst geh ich zum Nächsten.» Er setzt sich die Spritze und verliert. Zu Hause eskaliert alles. Jean-Pierre bestiehlt wegen der Sucht seine Eltern. Der Vater zieht die Reissleine und stellt ihn mit 19 vor die Tür. Später folgen Crack und der bodenlose Absturz: «Ich verfluche den Tag, an dem ich anfing.»
Jean-Pierre verliert die Arbeit, die Nähe zu den Menschen, zu sich selbst. Für viele Jahre. Doch er gibt nicht auf. Konsumiert weniger. Spielt Pokémon, findet Ablenkung. Neuerdings auch Arbeit, es sind kleine Schritte. Der Rückfall lauert, aber er will hinschauen. Radikal ehrlich.
Seit kurzem sieht er seinen Vater wieder. Auch er hatte ein Suchtproblem. Zwei Männer, gezeichnet, aber auf Augenhöhe. Vielleicht ist jetzt Schluss.
Politik und Gesellschaft sind gefordert
Marc, Jean-Pierre und Joost teilen ihr Schicksal laut Schätzungen mit mehreren tausend weiteren Menschen mit einer Crack-Abhängigkeit in der Schweiz. Viele Städte sehen sich in den letzten Jahren mit stark steigenden Zahlen von Abhängigen konfrontiert und mit offenen Drogenszenen. An einigen Orten ist zudem eine Zunahme der Randständigkeit wie etwa Obdachlosigkeit zu beobachten. Mehrere Gemeinden haben spezielle Konsumräume für die Einnahme von Crack eröffnet und ihre medizinischen und sozialen Angebote ausgeweitet – auch wenn die medizinischen Therapiemöglichkeiten bei einer Crack-Abhängigkeit sehr begrenzt sind.
Weil das «High» bei Crack so kurz ist und das Verlangen nach weiterem Konsum besonders rasch und stark eintritt, leiden die Abhängigen ständig unter starker Unruhe und reagieren häufig mit Verhaltensauffälligkeiten, insbesondere Gereiztheit. Sie schlafen kaum und fühlen weder Hunger noch Durst. Die unterstützenden sozialen Dienste in den Gemeinden und Kantonen sind deshalb stärker als bei anderen Abhängigkeiten damit beschäftigt, die Grundbedürfnisse von Betroffenen zu bedienen. Der verbreitete Fachkräftemangel in Pflege, Medizin, psychosozialen Diensten sowie der Polizei verschärft die Situation zusätzlich.