«Alle Jungs, die ich kenne, machen Sportwetten», sagt Silvan. Eine Aussage, die absolut klingt, im Kern aber kaum übertrieben ist. Für viele junge Männer gehören Sportwetten längst zum Alltag. Fast die Hälfte der 18- bis 29-Jährigen hat mindestens einmal in ihrem Leben gewettet.
Spiel mit Suchtpotential
Auch an diesem gemütlichen Fussball Champions-League-Abend mit Silvan und seinen Freunden wird auf alles gesetzt: auf den Sieger, die Zahl der Tore, den nächsten Torschützen oder wilde Kombinationen verschiedenster Ereignisse. Je verrückter die Wette, desto höher die Quote – und desto grösser der mögliche Gewinn.
Tatsächlich gewonnen wird aber kaum, wie die Jungs selbst einräumen: «Eigentlich verlieren wir fast immer.» Die verlorenen Einsätze geraten schnell in Vergessenheit. «Ich habe überhaupt keine Übersicht, wie viel Geld ich mit Sportwetten schon verspielt habe», sagt Silvan.
Mit dem Anpfiff ist bei den Wetten längst nicht Schluss. Während der gesamten 90 Minuten kann live auf nahezu alles gesetzt werden. Und wenn die erste Wette nach einem Fehlschuss aussieht, versucht man es mit einer zweiten – als könne man den Verlust noch retten. Gerade diese Livewetten bergen ein enormes Suchtrisiko, sagt Suchtexperte Domenic Schnoz: «Livewetten sind sehr emotionsgetrieben. Man muss innert kürzester Zeit entscheiden und etwas setzen – dadurch steigt auch das Verlustrisiko massiv.»
Wette verloren, Leben zerstört
Wie schnell man in eine Spielsucht abrutschen kann, zeigt die Geschichte von Thomas Melchior. Der Deutsche war 13 Jahre abhängig: «Am Wochenende machte ich jeweils eine digitale Weltreise. Um zwei Uhr morgens startete ich und wettete auf die ersten Fussballspiele in Neuseeland. Dann ging es weiter nach Asien, Europa, und abends landete ich bei irgendwelchen Tischtennisspielen in Amerika.» Am nächsten Tag, sagt er, habe das Ganze einfach wieder von vorne begonnen.
Ich fühlte mich zum ersten Mal frei, nachdem ich verhaftet wurde – weil ich wusste: Jetzt ist der Wahnsinn vorbei.
«Ich wollte meine Schulden mit immer neuen Wetten kompensieren. Es war verrückt!» Als sein eigenes Geld aufgebraucht war, lieh er sich Geld im Umfeld. Als auch dort nichts mehr zu holen war, wurde Thomas kriminell, um weiterzuspielen. Insgesamt verzockte er 800'000 Euro. Er spielte und spielte, bis schliesslich die Handschellen klickten.
Thomas Melchior landete im Gefängnis und verbrachte dort drei Jahre. Eine Zeit, die ihn geprägt hat. «Eigentlich fühlte ich mich zum ersten Mal frei, nachdem ich verhaftet wurde – weil ich wusste: Jetzt ist der Wahnsinn vorbei.»
Kontroverse Provokation
Heute will er andere vor Sportwetten warnen: Mit einer provokanten Aktion. Wochenende für Wochenende taucht er im Trikot einer verfeindeten Mannschaft vor verschiedenen Stadien auf und mischt sich unter die Heimfans. In der Hand hält er ein Schild mit der Aufschrift: «Wette verloren.»
Meist erntet er Spott und Hohn, doch nicht selten eskaliert die Situation. Für einige Fans genügt schon das falsche Trikot, um die Beherrschung zu verlieren. Melchior hat dabei auch schon einen Zahn eingebüsst: Ein Fan fühlte sich derart provoziert, dass er zuschlug.
Die Videos seiner Aktionen gehen viral – genau darauf zielt Melchior ab. «Manche halten mich für verrückt, aber so komme ich mit den Leuten ins Gespräch und kann meine Geschichte erzählen und meine Botschaft verbreiten: Sportwetten sind nicht harmlos.»
Nun ist er mit seiner Aktion erstmals in der Schweiz unterwegs. Und nicht irgendwo: in Basel, vor dem St. Jakob-Park – im Shirt des FC Zürich. Das Weiss sticht im rot-blauen Umfeld sofort ins Auge. Nach wenigen Minuten erscheint der Ordnungsdienst und warnt vor möglichen Gefahren. Doch statt Fäusten gibt es diesmal Verständnis. Viele Fans erkennen ihn und verstehen die Botschaft. Einzelne kritisieren zwar die Provokation, insgesamt überwiegen jedoch die positiven Reaktionen.
Thomas gegen Goliath
Doch ketzerisch gefragt: Juckt seine Aktion die grossen Wettanbieter überhaupt? Thomas hat darauf eine klare Antwort: Ja. Er erreiche mit seinen Videos genau jene Zielgruppe, die sonst ausschliesslich der glamourösen Sportwetten-Werbung ausgesetzt sei. Und er ist erfolgreich: Seine Clips erzielen auf Social Media teils ein Millionenpublikum. «Fakt ist: Die Videos werden wahrgenommen.»
Der 46-Jährige übt zudem grundsätzliche Kritik: «Die Wettanbieter pflastern die Stadien mit Werbung zu – deshalb muss ich genau hier präsent sein.» Auch Suchtexperte Domenic Schnoz warnt vor diesem Werbedruck: «Zum einen erreicht die massive Werbung nicht nur Erwachsene, sondern auch viele Jugendliche. Und zum andern werden ausschliesslich Gewinner gezeigt – das vermittelt ein völlig falsches Bild.»
Maximaler Gewinn
Während Süchtige wie Thomas alles verlieren, machen Wettbüros enorme Gewinne. Der weltweite Umsatz von Sportwetten lässt sich nur grob schätzen. Expertinnen und Experten gehen jedoch von über einer Billion Franken aus – mehr als 1000 Milliarden. Eine absurd grosse Zahl.
Auch in der Schweiz rollt der Rubel: Der Bruttospielertrag aus Sportwetten der beiden legalen Anbieter – «Sporttip» von Swisslos und «Jouez Sport» der Loterie Romande – lag im vergangenen Jahr kumuliert bei 264 Millionen Franken. Geld, welches die Spielenden verloren. Seit ausländische Anbieter 2019 verboten wurden, sind die Gewinne der hiesigen Betreiber regelrecht explodiert.
Ein grosser Teil der Gewinne fliesst zwar direkt in die Stiftung für Sportförderung – doch Millionenbeträge gehen auch in Werbung. Swisslos erläutert auf Anfrage, man müsse das legale Angebot sichtbar machen, damit Wettende überhaupt davon erfahren. Der Werbedruck ausländischer Anbieter sei enorm, heisst es weiter, und nur das eigene Angebot sei verantwortungsvoll ausgestaltet. Zudem seien sie eine gemeinnützige Organisation, deren Erträge in der Schweiz zweckgebunden eingesetzt würden.
Wettanbieter spielen ein Katz-und-Maus-Spiel
Offiziell sind ausländische Wettanbieter in der Schweiz verboten. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sie hier nicht weiterhin kassieren – und das teils mit erstaunlicher Dreistigkeit.
Ein besonders extremes Beispiel ist Interwetten, einer der grössten Anbieter weltweit. In der Schweiz ist die Plattform illegal und eigentlich gesperrt. Doch Interwetten umgeht die Sperren aktiv – ein regelrechtes Katz-und-Maus-Spiel. Sobald eine Domain blockiert wird, taucht die nächste auf. Aus «interwetten19.com» wird «interwetten20.com», inzwischen ist man bei 21 angelangt. Auf der Website findet sich zudem ein Schweiz-Button, der gezielt Schweizer Kundschaft anspricht.
Was wie das Treiben eines Hackers anmutet, ist in Wahrheit ein hochprofessionelles Millionenunternehmen – Partner renommierter Clubs wie Liverpool, Bayern München oder der österreichischen Bundesliga.
Perfide wird es bei den Auszahlungen: Während Einzahlungen schnell und unkompliziert funktionieren, können Abhebungen deutlich schwieriger werden. In den AGB steht, Interwetten hafte nicht, wenn Spieler in einem Land wetten, in dem das Angebot eigentlich illegal sei. Eine Möglichkeit, um grössere Beträge im Zweifel nicht auszahlen zu müssen. Schweizer Kunden anlocken? Sehr gerne. Sie schützen oder zuverlässig auszahlen? Lieber nicht.
Im Strudel der Mafia
Der Ruf der Sportwetten ist nicht nur wegen der Suchtgefahr ramponiert. Manipulationsskandale rücken weltweit den Sportwettenmarkt in ein kritisches Licht und zeigen, wie anfällig selbst grosse Ligen und Verbände für Einflussnahme sind.
Mit der Problematik beschäftigt sich auch Mirjam Koller. Sie hat eine Doktorarbeit zum Thema Spielmanipulationen verfasst und untersucht heute als Anwältin für verschiedene Sportverbände verdächtige Spiele. Sie weiss, wer hinter vielen Manipulationen steckt: «Häufig sind es grosse internationale kriminelle Organisationen – mit Mittelsmännern auf der ganzen Welt.»
Die Strukturen seien derart professionell, dass die Wettmafia Ausbildungszentren betreibe, in denen Mittelsmänner geschult würden: wie sie Spieler ansprechen, Vertrauen aufbauen oder welche Länder die grössten Gesetzeslücken bieten. Betroffen seien mittlerweile vor allem die tieferen Ligen, weil hier die Überwachung schlechter sei und Amateur-Spieler viel empfänglicher für finanzielle Angebote seien.
Anfälliges Tennis
Auch im Tennis sorgen immer wieder Fälle mutmasslicher Manipulation für Aufsehen, besonders bei Spielen jenseits des grossen Rampenlichts. Ein ehemaliger Profi und heutiger Trainer sagt gegenüber SRF: «In meiner Zeit gab es viele Spieler ausserhalb der Top 200, für die es lukrativer war zu betrügen als zu gewinnen. Einige haben sogar auf ihre eigenen Spiele gewettet.» Heute sei die Überwachung besser, doch die Wettmafia versuche weiterhin, vor allem Spieler aus finanziell schwachen Verhältnissen zu bestechen.
Wenn jedes zweite Spiel manipuliert ist (…), zerstört sich der Sport damit selbst.
Tennis eigne sich besonders für Manipulationen, ergänzt Mirjam Koller: «Man muss nur eine Person bestechen. Ein Spieler kann auch einfach einen Satz abgeben – er muss nicht einmal verlieren, um zu betrügen.»
Der Sport schade sich mit solchen Skandalen letztlich selbst, sagt Koller: «Wenn jedes zweite Spiel manipuliert ist, verliert der Fan das Interesse, Sponsoren springen ab – der Sport zerstört sich damit. Irgendwann kann man eigentlich aufhören.»