Zwölf Jahre lang durchlebt Flavia Maier eine Odyssee durch diverse Kliniken und Spitäler der Schweiz. Gesund wird sie nirgends. Die kranke Stimme der Magersucht in ihrem Kopf hat stets die besseren Argumente als Ärzte, Psychologinnen, Pflegende und Ernährungsberaterinnen.
Eine kranke Stimme im Kopf
«Gut gemacht!», flüstert die Stimme der Anorexie Flavia Maier ins Ohr, wenn sie wieder ein Kilo verloren hat. Die Magersucht gibt der jungen Frau die Bestätigung, nach der sie sich so sehr sehnt. «Eine Psychologin hat mir einmal gesagt, ich sei ein Fass ohne Boden», erinnert sich Flavia Maier. «Man kann oben so viel Lob, Wertschätzung und Anerkennung ‹einfüllen›, wie man will – es fliesst einfach wirkungslos wieder ab.».
Zwar schafft sie es immer wieder, in spezialisierten Kliniken ein paar Kilo zuzunehmen. Doch ab einem gewissen Gewicht übernimmt stets die Krankheit wieder das Kommando. Der Beginn einer fatalen Abwärtsspirale: Die Gewichtszunahme stagniert, Maier fliegt aus dem Programm und muss die Klinik verlassen, nimmt noch mehr ab und landet schliesslich ausgemergelt in einem Akutspital, wo sie mit Magensonde ernährt wird.
Dort wird sie aufgepäppelt. Nach ihrer Entlassung geht das Hungern weiter. Immer und immer wieder. Chronisch kranke Magersüchtige fallen nicht selten durch die Maschen unseres Gesundheitswesens.
Brandgefährliche Krankheit
Ärzten fehlt es oftmals an Wissen über die Anorexie und deren Gefährlichkeit. Gabriela Milos, ehemalige Leiterin des Zentrums für Essstörungen am Universitätsspital Zürich, ärgert sich über die Ignoranz vieler Ärzte. Diese begegneten anorektischen Patientinnen oftmals mit der lapidaren Bemerkung «Die soll doch einfach essen!». Dabei hat die Magersucht einer der höchsten Sterblichkeitsraten aller psychischen Krankheiten.
Auch Flavia Maiers Leben hing zweimal am seidenen Faden. Als die damals 22-Jährige einmal mehr aus einem Klinikprogramm katapultiert worden war und bald darauf nur noch lebensbedrohende 24 Kilogramm wog, stellten die behandelnden Ärzte Flavias Maiers Eltern vor die Entscheidung: Entweder sie stimmen der Ernährung mit einer Magensonde zu, oder Flavia wird auf eine Palliativstation verlegt, um dort zu sterben.
«Es fehlt an Auffangstationen für Betroffene, die durch das Netz unseres Gesundheitswesens fallen», beklagen Flavias Eltern Gitte und Markus Maier. Jahre lang kämpften die beiden mit ihrer Krankenkasse für die Behandlung ihrer Tochter in einer sogenannten «Komplexstation» in Deutschland.
«Kalter Entzug» in Deutschland
Im Dezember 2021 gewinnen Markus und Gitte Maier diesen Kampf: Flavia Maier kann in die «Schön»-Klinik in Rosenheim bei München eintreten. Ihre Erlebnisse dort beschreibt sie als «kalten Entzug»: Alles, woran sie sich in ihrer Sucht all die Jahre geklammert hatte – Hungern und ständige Bewegung – wird ihr entzogen: Anderthalbfache Portionen müssen bis zum letzten Krümel aufgegessen werden. Flavia und ihre Patientinnen werden in Rollstühlen herumgeschoben, damit sie im Gehen keine Kalorien verbrennen können.
Das strenge Klinikregime zeigt bei Flavia Maier Wirkung. Der Grund: In allen Kliniken in der Schweiz habe man ihr immer noch einen Rest Eigenverantwortung überlassen, erinnert sich Maier. In der «Schön»-Klinik ist Schluss damit. Sie nimmt 16 Kilogramm zu. Sie habe in dieser Zeit «einen Blick hinter die Magersucht» werfen dürfen und dabei herausgefunden, dass das Essen und die damit verbundenen negativen Emotionen sie nicht umbringen würden.
Heilung ist möglich
Nach ihrem Austritt verliert Flavia Maier noch einmal massiv an Gewicht und tritt dann in Klinik «Wysshölzli» in Herzogenbuchsee ein. Dort wird bei der damals 25-Jährigen eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, die es ihr erschwert, adäquat mit ihren Emotionen umzugehen. In der Therapie rücken ihre Psychologinnen diese Persönlichkeitsstörung ins Zentrum, Flavia Maiers Umgang mit dem Essen tritt in den Hintergrund.
Die Therapien in München und Herzogenbuchsee schlagen an – Flavia Maiers Gesundheitszustand verbessert sich kontinuierlich und so dauerhaft, dass sie Mitte 2024 zuerst in ein betreutes Wohnen in Bern umziehen und im Dezember letzten Jahres ihre erste eigene Wohnung beziehen kann. Zwar lebt die heute 27-Jährige aktuell noch von einer IV-Rente.
Sie arbeitet aber in einem 80-Prozent-Pensum an einem geschützten Arbeitsplatz und denkt über eine Ausbildung nach. «Es war ein harter und langer Weg», sagt Flavia Maier über ihre Genesung. «Aber er hat sich gelohnt – endlich kann ich das Leben in allen Facetten geniessen.»