ESC-Fans reisen für ihn quer durch Europa und sparen für teure Hotels. Sie lieben Popmusik, den Wettbewerb und die grosse Show. Welcher Zauber steckt im ESC? SRF hat bei sieben Schweizer ESC-Ultra-Fans nachgefragt.
Ladina Bosshard, 24, Näfels
Es sind winzige goldene, zartrosa Perlen und solche mit schwarzen Buchstaben, die aufgefädelt das ESC-Motto «United By Music» ergeben. Ladina Bosshard hängt noch ein Herzchen oder Blümchen an und verteilt die Armbänder an Verbündete. Ihr Faible für Fan-Merchandise ist bereits älter als das Lauffeuer unter Taylor-Swift-Fans, ihre Songtitel in Armbändern zu verknüpfen. Bosshard besitzt beispielsweise das Kultbüchlein «Der kleine Prinz» mittlerweile in 80 Sprachen. «Da gibt es eine Schnittmenge mit meiner ESC-Leidenschaft. Ich mag Kultur und Sprache.» Es gibt die vier Jahreszeiten und es gibt den Song Contest. Er strukturiert Bosshards Jahr. «In dieser unsicheren Zeit gibt er mir Sicherheit und Kraft.»
Der ESC ist bunt! Ich bin bunt.
Schlimm war es, als der ESC während der Pandemie einmal abgesagt wurde. «Ich bin in ein Loch gefallen, weil plötzlich ein grosser Lebensinhalt weg war.» Als neurodivergenter Mensch teilt sich Bosshard ihre Energie gut ein. Für laute und unübersichtliche Situationen sieht sie genug Rückzugsraum vor. Doch beim ESC ist das hinfällig, er ist ein Energiemotor. «Der ESC ist bunt! Ich bin bunt.» Das Gefühl, nicht richtig in die Gesellschaft zu passen, ist in der ESC-Gemeinschaft ein vergessenes. «I broke the code» hat sich Bosshard, von Nemo vorgezeichnet, kürzlich auf den Oberarm tätowiert. Sie kennt's. In der ESC-Welt knackt auch sie soziale Codes.
Alex Truong, 24, Bern
Sich «Me-Time» zu nehmen, das musste Alex Truong in der ganzen Aufregung und Informationsdichte erst einmal lernen. Am Tag eines ESC-Landesfinales sind 400 ungelesene Nachrichten im Gruppenchat der Schweizer Fans keine Seltenheit. «Es hat ein bisschen gebraucht, bis ich sagen konnte, hey, ich verpasse eigentlich nichts.» Das Paralleluniversum des ESC hat er oft auf Online-Plattformen wie Discord betreten. Inzwischen ist er gar Social-Media-Beauftragter des Schweizer Fanclubs. Keine politische Diskussion entgeht ihm.
Okay, das ist eigentlich etwas komplett Normales.
Debatten über die Teilnahme Israels und den Ausschluss Russlands seien oft stark zugespitzt. «Da geht es nicht mehr um den Song Contest, sondern um Politik und Meinung. Das finde ich recht traurig.» Der ESC-Kosmos sollte Wärme und Geborgenheit versprühen, so wie er es erlebt: Die Geschichte seines Coming-outs verläuft gewissermassen äquivalent zu der des ESC. Als Europa vor zehn Jahren die Dragqueen Conchita Wurst zur Siegerin kürt, bestärkt das auch sein queeres Erwachen: «Ich dachte, okay, das ist eigentlich etwas komplett Normales.» In Basel wird Truong den ESC nun das erste Mal live erleben, im EuroClub mit der «Familie» feiern und natürlich neue Musik entdecken. Immer noch ein Fiebertraum.
Levin Geser, 25, Zürich
Den Wohnwagen seiner Eltern hat Levin Geser schon geklärt, das Outfit für die Basler Partytage steht noch nicht. Tickets für alle Shows hat er eingeheimst. Und ja, es ist eine grosse (Fernseh)show, die da geboten wird. Echtes Entertainment – seine Liebe für den ESC. Dazu kommt die Neugierde für andere Länder. «Ich habe schon als Kind Länderfahnen gesammelt.» Als Nemo gewinnt, ist er in Paris. Sein mitreisender Kollege verschläft den Schweizer Sieg im Hostelzimmer. Geser im Bett daneben muss heulen. «Ich hatte mega schlechtes Internet, die Voting Sequenz war so nervenaufreibend. Ich musste mir richtig auf die Finger beissen, um nicht zu schreien.»
Ich bin nicht patriotisch, aber beim ESC habe ich einen anderen Stolz für die Schweiz.
Am nächsten Tag flattern Nachrichten seiner Nicht-ESC-Freundinnen und -Freunde ein. «Ich fand es witzig, wie viele sich für mich gefreut haben!» Kein Wunder: Seine ESC-Playlist lässt er konsequent laufen, Geser feiert den ESC, und mit ihm dürfen es alle anderen auch. In seiner bisherigen, in seinen Worten, «religiösen», ESC-Laufbahn war die Schweiz eine Enttäuschung – und dann plötzlich der Triumph. Das überwältigt. «Ich bin nicht patriotisch, aber beim ESC habe ich einen anderen Stolz für die Schweiz, der sich gut anfühlt.» Sein Eindruck: Anderen Länderfans geht es ähnlich, und das verbindet.
Iva Saravanja, 29, Zürich
Iva Saravanja mag Superlative, und sie treffen zu. Einer lautet: «Ich bin schon mein Leben lang ESC-Fan.» Man glaubt ihr sofort, weil dieses Bild von den Samstagabendshows, die die ganze Familie vorm Fernseher verfolgt und mittendrin Saravanja als Säugling, so sehr eindringt. Ein weiteres Optimum: «Meine ganze Karriere verdanke ich dem ESC.» Alles begann mit einem Auftritt beim einstmaligen Jugendsender Joiz. Saravanja als Super-Fan kommentierte auf dem Gästesofa einen Song Contest. Danach stieg sie bei Joiz ein. Als der Sender dicht machte, holte ein ehemaliger Mitarbeiter sie zur Plattenfirma Sony, wo sie heute das deutsche ESC-Duo «Abor und Tynna» mitbetreut.
Ich muss mich unterhalten fühlen.
Saravanja liebt Musik, die überrascht, eindringt und sich etwas traut. «Ich muss mich unterhalten fühlen.» Die Bedingungen für ein solches Motto benennt sie klar: «Die Leute auf der Bühne müssen eine Verbindung mit dem Publikum aufbauen.» Saravanjas Begeisterung ist ein Ventil für alles, was unter die Haut geht. So versteht sie nicht, warum manch einer die politische Deutungsmacht des ESC leugnet. «Ich finde das ignorant und naiv. Der ESC war schon immer politisch. Die Frage ist, wie geht man damit um.» Geht es nach ihr, braucht es eine klare Haltung. Denn nicht zu unterschätzen sei die politische Streuwirkung des ESC in heutiger Zeit.
Nina Novic, 36, Zürich
In der ESC-Welt lässt sich die eigene Geschichte aufspüren. Nina Novic ist in Bosnien geboren und ethnisch serbisch. Sie weiss, dass blutige Konflikte ganze Nationen traumatisieren können. «Es berührt mich, dass sich plötzlich Länder Punkte geben, die durch Krieg aufs brutalste auseinander gegangen sind.» In der ESC-Community zähle «einfach das Menschsein». Novic arbeitet im Bankwesen; als trans Frau werden ihr oft Fragen gestellt.
Wir sind das gewohnt.
Zum ESC in Turin pilgerte sie allein und traf prompt auf drei Frauen mit Schweizer Flagge. Mit ihnen probte sie später in ihrem Wohnzimmer für den ESC Vision Contest in Hamburg. Hierbei treten Fans gegen Fans mit Coversongs an. Vor 200 Gefolgsleuten performten sie «Hey Mamma» der moldawischen Gruppe Sunstroke Project. «Das ist nicht ganz ohne gewesen.» Der ESC formt auch die eigene Geschichte: Anschluss und Selbstentfaltung erfährt Novic in der Community. Bereits seit Jahrzehnten macht der ESC queeres Leben sichtbar. «Viele Politiker stört das, weil es nicht in ihre Agenda passt.» Wenn so mancher konservativer Politiker eine vermeintliche Teufelsverehrung vor laufender Kamera befürchtet, sieht Novic da vor allem eins: Queerfeindlichkeit verpackt in Christentumkritik. Und auch das gehört zu ihrer Geschichte: «Wir sind das gewohnt.»
Florian Tusi, 43, Schmerikon
«Für mich ist jeden Tag ESC», sagt Florian Tusi. Das ist so, seit Céline Dion 1988 für die Schweiz den Song Contest gewann. «Ne partez pas sans moi» (Geht nicht weg ohne mich). Seither folgt Tusi dem ESC-Rabbit-Hole. Er erinnert nahezu jedes Datum, jede Nation, jede Punktzahl, jede Platzierung.
Ich habe dafür einen Sechser bekommen!
Im Herbst 1996 hält er seiner Schulklasse einen Vortrag über den ESC. «Ich habe dafür einen Sechser bekommen!» Später erfährt er, dass auch sein damaliger Lehrer ein glühender Anhänger ist. Beim Treffen des internationalen ESC-Clubs in Malmö im Jahr 2013 heimst er für die Schweiz den dritten Platz beim Quiz ein. «Hinter Deutschland und Grossbritannien, das war nicht schlecht.» Vorbereitet hat er nichts. Sein Puls schlägt höher, wenn die Punktevergabe der Länder gelüftet wird. Es folgt die numerische Erlösung. Tusi will es ganz genau wissen, und doch bleibt es fangeliebte Spekulation, wie Outfit, Performance, Sprache und Gesang die Gunst des Publikums beeinflussen. Tusi ist Vorstandsmitglied beim Schweizer ESC-Fanclub, gehört dem Deutschen und Österreichischen an und meldet sich regelmässig für eine vom finnischen Club organisierte Partyschifffahrt mit Stargästen an. Sein täglich ESC – so funktioniert das. Tusi freut sich auf den türkisen Teppich der Basler Eröffnungszeremonie. Wenn die Stars aufwarten, ist der ESC in der Schweiz Wirklichkeit. 1.5 Kilometer lang soll er werden. Das hat er sich leicht gemerkt.
Eric Neuenschwander, 59, Zürich
Eric Neuenschwander war schon ESC-Fan, als die Punktevergabe noch in den Sprachen aller teilnehmenden Länder erfolgte. Das schaffte man bald wieder ab, denn Europa wuchs. «Der ESC ist ein Friedensprojekt, ähnlich wie die EU. Das vergessen viele Leute.» Die ehemalige SRG startet den Musikwettbewerb 1956 in Lugano auf neutralem Grund. Neuenschwander wünscht sich mehr Vermittlung und mehr Versöhnung, auch beim ESC. Vielleicht machen bald wieder Länder wie die Türkei, Ungarn oder Rumänien mit. «Es wäre schön, wenn Europa wieder etwas friedlicher wäre, oder?»
Der ESC ist eine Mischung aus Show und Sportanlass, bei dem es um etwas ganz anderes geht.
Bereits als Kind fiebert Neuenschwander vor der Röhre mit, erlebt den ABBA-Sieg in Echtzeit. «Der ESC ist eigentlich eine Mischung aus Show und Sportanlass, bei dem es um etwas ganz anderes geht.» Wie viele andere Fans vergleicht Neuenschwander die ESC-Liebe mit der von Fussballfans für ihren Verein – nur ohne Aggressionen. Vom einstmaligen Schlagerwettstreit ist heute beim ESC nicht mehr viel zu spüren. Doch Neuenschwander kennt sie alle, die Hits von früher. Er verewigte sie lange Zeit als DJ Wollana in seinen Musiksets, mit denen er auf Lollipop Schlagerpartys überall in der Schweiz auftrat. «Vielleicht kann Basel zeigen, dass es nicht den Gigantismus braucht.» In der Expansion und Kommerzialisierung, vor der auch der ESC nicht gefeit ist, sieht Neuenschwander eine Gefahr, den Kern der Sache zu verlieren: Die Leute sollen Freude haben an der Musik und am Wettbewerb.