Da steht auf der einen Seite die Massentierhaltung, auf der anderen die Ähnlichkeit im genetischen Code. Kein Wunder also, dass die Forschung eifrig bemüht ist, menschliche und schweinische Zellen zu kreuzen und in einem Organismus zu mischen. Als Belohnung winkt ein unerschöpfliches Ersatzteillager an Organen. Medizinisch ist die Menschheit schon so weit – die ethische Diskussion hingegen steht noch ganz am Anfang.
Das Schwein: Glücksbringer oder Ersatzteillager?
Im Stück der französischen Autorin Gwendoline Soublin steht das Schwein in seiner Beziehung zum Menschen im Vordergrund: ob als Nahrungsmittel, als Gefahr – oder als Hoffnung. In drei Episoden, die einen rasanten Rutsch durch die Jahrhunderte abbilden, wird nicht nur diese Beziehung «Tier – Mensch» untersucht. Es wird auch generell die Freiheit des Individuums auf die Probe gestellt – und zwar im Kampf gegen so riesige Gegner wie Marktkonformität und Massenmedien.
Menschliche Katastrophe mit grossem Soundtrack untermalt
Die Geschichte beginnt 1986: Theodor Bouquet ist Landwirt – und den meisten heutigen Landwirten geht es schlecht. Der Konkurrenzdruck grosser Konzerne treibt den Schweinezüchter in ein erbärmliches Leben: unmenschliche Arbeitsbedingungen, Einsamkeit, Ausweglosigkeit. Wie ein nicht enden wollender Alptraum spult sich das Leben des jungen Mannes ab, der doch so gerne ein Held und Rinderzüchter wäre: ein Cowboy eben. Wie in den Western. Doch sein Leben endet in einer Katastrophe.
Das ist SRF Hörspiel: Ob als aktuelles Dialekt-Hörspiel, als rasant inszenierter Radio-Krimi oder als intimes Hörstück, es erwarten Sie überraschende Hörgeschichten
Um diesen Podcast zu abonnieren, benötigen Sie eine Podcast-kompatible Software oder App. Wenn Ihre App in der obigen Liste nicht aufgeführt ist, können Sie einfach die Feed-URL in Ihre Podcast-App oder Software kopieren.
Ein Sprung in die nahe Zukunft: wir schreiben das Jahr 2056
Ein Leben wie im Film führt hingegen Pig Boy. Er ist das Maskottchen des grossen Schweinefleisch-Konzerns, jettet um die Welt, lebt in Luxus-Hotels und ist der Star auf allen Social Media Kanälen. Er hat Millionen Follower.
Kleine Nebenbemerkung: Pig Boy ist ein Schwein
Doch das spielt für die Liebe seiner Fans keine Rolle; sie behandeln ihn wie ihresgleichen – bis zu jenem Augenblick, in dem er aus seiner Rolle als tierischer Liebling heraustritt. Er hat Sex mit einem Groupie. Und ein Aufschrei geht um die Welt. Pig Boy wird vor Gericht gestellt: wegen «Verrats an den menschlichen Sitten, Missbrauchs der Schweineidentität und Verletzung der Artenrechte.» Dem Schwein wird der Prozess gemacht: In einem riesigen, multi-medialen Spektakel.
Hybrid-Wesen sind keine ferne Zukunft mehr
Im dritten Teil des Hörspiels sind wir im Jahr 2358. Eine trächtige Sau flüchtet aus einer Schweinezucht. In sich trägt sie einen Chimären-Wurf: Embryonen, die halb Mensch, halb Schwein sind und deren Organe als Ersatzteillager für Menschen dienen sollen.
Die Mensch-Sau träumt von einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung – fernab eines klinischen Umfelds, das dem Lebewesen die Unantastbarkeit seiner undefinierten Gattung (noch) abschreibt.
Drei ganz unterschiedliche Hörspiele verbinden sich zu einem
Die erste Episode lebt von einem grossen aktuellen Zeitbezug. Mit vielen realistischen Schweinestall-Geräuschen und vor einer Kulisse, die von grosser Filmmusik gebaut wird, spult sich Theodor Bouquets Leben in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale ab, der er nicht entrinnen kann, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren.
Der Prozess: Das Urteil fällt das Publikum
Die zweite Episode ist geprägt von der Vielstimmigkeit einer ganz nahen Zukunft. Debatten werden nicht mehr von institutionalisierten Eliten geführt, sondern finden in den Social Medias statt. Was gelebte Demokratie verspricht, lässt aber oft verbindliche Regeln oder Gesetze vermissen, die die Leitplanken vorgeben. Das Bauchgefühl entscheidet, persönliche Meinungen werden zu Wahrheiten erhoben und Hetze macht sich breit. Versteckt hinter Pseudonymen, geschützt durch die Unpersönlichkeit von Remote-Veranstaltungen, wird jeder zum Richter – und viele zum Henker.
Ein Monolog zum Schluss
In Pig Boys Prozess kommen Dutzende verschiedene Stimmen zu Wort. Diesem Gewirr stellt die Autorin zum Schluss ihres Stückes einen Monolog gegenüber. Cathlen Gawlich spricht empathisch die Mensch-Sau, die gerade erst ein eigenes Bewusstsein und damit eine eigene Sprache entwickelt. Die Mensch-Sau sorgt sich nicht um sich selbst, sondern um ihre Nachkommen, um die Zukunft. Die die Zukunft aller Arten ist.
Mit: Guillaume Boullay (Colonel Vasseau, Vater), Adam Bousdoukos (Truman), Katja Brügger (Richterin), Mai Linh Dang (Gesang, Katsue Matumato), Hanna Eichel (Erzählerin), Martin Engler (Vlag.gogo), Cathlen Gawlich (Mensch-Sau), Julian Greis (Interface, Pig Boy), Matti Krause (Christian), Antonio Ramón Luque (Tao Wong), Anne Moll (Station-Voice, Mutter), Angelika Richter (Rechtsanwältin), Mohammad Sabra (Howard Mousseff), Maximilian Scheidt (Theodor Bouquet), Cathérine Seifert (Erzählerin, Protestlerin) und Samuel Weiss (Maxime Guimarch)
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow, Andreas Jandl und Corinna Popp
Komposition: Johannes Hofmann - Tontechnik: Corinna Gathmann und Alica Wisotzky - Regie: Susanne Janson - Dramaturgie: Michael Becker - Produktion: NDR/SRF 2021 - Dauer: 56'