Kurz nach 6 Uhr in der Früh beginnt der Arbeitstag: Mittelsmänner fahren mit Lieferwagen in das improvisierte Zeltdorf ohne Strom und Wasser auf dem Flughafen von Ünye, der nie in Betrieb war. Sie rekrutieren Wanderarbeiter für Haselnussanlagen.
So auch den 11-jährigen Aras mit seiner Familie. Wohin sie genau gefahren werden, wissen sie nicht. Nur, dass sie den Männern 10 türkische Lira für die Vermittlung bezahlen müssen – fast so viel wie für ein Kilo Brot. Rund eine Stunde später kommen Aras und seine Familie im Haselnusshain an.
Von Mai bis November unterwegs
Die Arbeit im steilen Hang ist anstrengend, der Tag lang. 10 Stunden oder länger pflücken sie Haselnüsse oder lesen sie vom Boden auf. Der Lohn: Rund 13 Franken pro Person und Tag. Kinder bekommen oft weniger. Das Geld bekommen sie am nächsten Tag bar ausbezahlt. Verträge oder Versicherungen gibt es keine.
Die Arbeit ist beschwerlich: «Der Rücken und die Füsse schmerzen», sagt Aras’ Vater Tugay C. Und: «Mein Lohn ist aufgebraucht, bevor ich wieder heimgehe.»
Die kurdische Familie aus dem armen Südosten des Landes schlägt sich mit dieser Arbeit durch. Sie reist von Erntefeld zu Erntefeld: zuerst Erdbeeren, dann Aprikosen, Haselnüsse, Zuckerrüben. Seit März sind sie unterwegs, nach Hause reisen sie im November.
Aras arbeitet mit wie ein Erwachsener und geht in dieser Zeit nicht zur Schule. Wir fragen ihn, wo er am liebsten wäre: «In meiner Heimatstadt, ich möchte die Schule besuchen», so seine Antwort. Sein Berufswunsch: Polizist.
200'000 Kinder arbeiten in der Türkei
Kinderarbeit ist in der Türkei verboten. Trotzdem ernten Kinder Haselnüsse. Laut Schätzungen des türkischen Statistikinstitutes arbeiten insgesamt 200'000 Kinder als Wanderarbeiter.
Der Besitzer der Haselnussanlage verteidigt sich: «Wenn ich sagen würde, ich stelle keine Kinder ein, käme niemand zur Arbeit», sagt Nedim G. Die Arbeiter würden sich weigern zu kommen, wenn die Kinder nicht mitarbeiten dürfen. Er sagt, er tue sein Möglichstes, um den Familien ein gutes Leben zu ermöglichen. Doch auch er erhalte für seine Haselnüsse zu wenig.
«Das grosse Geld verdienen die grossen internationalen Firmen», sagt er. «Wir ernten und verkaufen Haselnüsse, bezahlen Arbeiter, pflegen Anlagen. Das ist aufwändig und teuer.» Der Preis, den er für seine Nüsse erhalte, sei viel zu tief. Ihm sei es kaum möglich, seinen Lebensstandard zu bewahren.
Niemand weiss, ob Kinder geerntet haben
Auf türkischen Landwirtschaftsbetrieben arbeiten während der Saison mindestens 1 Million Wanderarbeitende. Die meisten unter schwierigen Bedingungen. Die Türkei ist die grösste Haselnussproduzentin der Welt, 700’000 Tonnen Haselnüsse werden jedes Jahr geerntet, der grösste Teil kommt aus der Region an der Schwarzmeerküste.
Über 8000 Tonnen türkischer Haselnüsse werden pro Jahr in die Schweiz importiert. Die Nüsse der Bauern werden von Zwischenhändlern aufgekauft, die sie weiterverarbeiten und -verkaufen. Die Lieferkette ist intransparent. «Wie kann ich die Schweizwissen, ob für meine Nüsse Kinder arbeiten mussten?», fragt ein Zwischenhändler. «Das weiss man einfach nicht.»
«Kassensturz» hat verschiedene Lokalpolitiker der Region angefragt und um ein Interview gebeten, ohne Erfolg.