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Datenschutz: Patienten sitzen am kürzeren Hebel
Aus Espresso vom 05.05.2022. Bild: Imago
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Versicherungsvollmacht «Wozu verlangt die Versicherung all diese Daten über mich?»

Ein Mann will nicht, dass seine Versicherung überall Informationen über ihn einholen kann. Doch er sitzt am kürzeren Hebel.

Der Fall

Ein 52-jähriger «Espresso»-Hörer erkrankt an einer Depression. Der Arzt überweist ihn in eine Klinik. Die Krankentaggeldversicherung des Arbeitgebers verlangt, dass der Patient eine so genannte Auskunftsvollmacht unterschreibt. Das mehr als eine Seite umfassende Dokument gibt der Versicherung das Recht, an allen möglichen Stellen Akten über den Patienten einzusehen: unter anderem bei allen Krankenkassen, Versicherungen, bei der Invalidenversicherung, der Arbeitslosenkasse und «Amtsstellen».

Dem Patienten geht das zu weit. Er wolle nicht sein ganzes Leben ausbreiten müssen.  Deshalb streicht er auf dem Vollmachtsformular einzelne Textstellen durch. Die Folge: Die Krankentaggeldversicherung droht damit, die Leistungen einzustellen.

Die Rechtslage bei Auskunftsvollmachten

Das Gesetz über den Datenschutz regelt, unter welchen Voraussetzungen persönliche Daten über Personen eingeholt und bearbeitet werden dürfen.

Ein wichtiger Grundsatz im Datenschutz: Jede Datenbearbeitung muss verhältnismässig sein. Das bedeutet: Es dürfen nur so viele Daten wie nötig und so wenig wie möglich beschafft und bearbeitet werden.

Wer nun wie der betroffene «Espresso»-Hörer zum Beispiel wegen einer Krankheit Versicherungsleistungen beansprucht, muss der Versicherung erlauben, Informationen an verschiedenen Stellen (zum Beispiel beim Arbeitgeber oder bei behandelnden Ärztinnen) einzuholen. Gemeint sind Daten, die notwendig sind, dass die Versicherung den Leistungsanspruch im konkreten Fall prüfen kann.

Versicherungen verwenden Standardformulare

Wie im Beispiel des 52-jährigen «Espresso»-Hörers lassen Versicherungen ihre Patientinnen in solchen Fällen vorgedruckte Vollmachts-Formulare unterschreiben. Solche Auskunfts-Vollmachten sind nicht auf den konkreten Fall bezogen, sondern sehr weit gefasst. Im Resultat erlauben sie der Versicherung, praktisch überall jegliche Informationen über den Patienten einzuholen. Auch solche, die sie für die Abklärung der Leistungspflicht im konkreten Fall nicht oder noch nicht benötigt. Ohne solche Standardformulare wäre die grosse Zahl der Versicherungsfälle nicht zu bewältigen, argumentieren die Versicherungen. Und obwohl die Vollmachten sehr umfassend formuliert sind, würden bei Leistungsabklärungen nur «fallbezogene, notwendige» Informationen eingeholt.

Anwältinnen sind skeptisch

Anwältinnen und Anwälten sind solche Generalvollmachten ein Dorn im Auge: «Sie sollten fallbezogen auf das Nötige reduziert sein», fordert Kaspar Gehring, Fachanwalt für Versicherungsrecht. Bei einer Arbeitsunfähigkeit beispielsweise benötige eine Krankentaggeldversicherung zur Abklärung der Leistungspflicht in erster Linie ein ärztliches Zeugnis, welches belege, dass die betroffene Person nicht arbeitsfähig sei und voraussichtlich wie lange. Formulierungen auf solchen Vollmachten, wonach Informationen etwa bei «bei sämtlichen Amtsstellen» eingeholt werden könnten, gehen Gehring zu weit. Immerhin handle es sich bei Gesundheitsdaten um höchst sensible Daten.

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Stossend findet der Versicherungsrechts-Spezialist, dass durch solche umfassenden Vollmachten auf Kosten der Prämienzahlerinnen eine kaum kontrollierbare Datensammlung ermöglicht werde. Kritisch gegenüber solchen Standardvollmachten äussert sich auch der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte (EDöB). Eine Versicherung dürfe nur die für die Abklärung der Leistungspflicht notwendigen Informationen einholen. Die Vollmacht müsse also auf den konkreten Fall eingeschränkt formuliert sein. Eine zu weit gefasste Vollmacht, mit der überall beliebige Daten eingeholt werden könnten, verstosse gegen das Gesetz.

Aber der Datenschutzbeauftragt schränkt ein: nicht jede umfassend formulierte Auskunftsvollmacht sei automatisch gesetzeswidrig. Ob dem so sei, könne erst ein Gericht anhand eines Einzelfalls klären. Und: Auch die auskunftsgebenden Stellen seien an das Gesetz über den Datenschutz gebunden, betont der Datenschutzbeauftragte. Frage eine Versicherung an, so dürften die angefragten Stellen nur Auskünfte geben, die auf den konkreten Fall bezogen, notwendig und verhältnismässig seien.

Patientinnen und Patienten sitzen am kürzeren Hebel

Dass es für Patientinnen unangenehm ist, wenn eine Versicherung an allen möglichen Stellen Informationen über sie einziehen kann, kann der Eidgenössische Datenschutzbeauftrage nachvollziehen. Vor allem, wenn die Patientin nicht wisse, wo genau Informationen nachgefragt würden. Vor diesem Hintergrund rät der Datenschutzbeauftragte betroffenen Patientinnen, nach der Abwicklung eines Versicherungsfalls bei der Krankentaggeldversicherung ein Auskunftsgesuch zu stellen. So erfahren sie, welche Daten die Versicherung über sie gespeichert hat.

Für Patientinnen und Patienten ein Riesenfrust. Sie können sich erst im Nachhinein gegen die Verletzung ihrer Rechte wehren, nachdem die Versicherung die Daten bereits beschafft hat. Weigert sich ein betroffener Patient, eine Vollmacht zu unterschreiben oder verlangt er, wie der oben erwähnte «Espresso»-Hörer, eine auf seinen Fall eingeschränkte Vollmacht, droht die Versicherung postwendend mit Einstellung der Leistungen.

Die Stellungnahme der Versicherung

«Espresso» hat die Krankentaggeldversicherung des Hörers – die AXA – mit den Vorwürfen konfrontiert. Diese hält fest, dass es sich um eine Standardvollmacht handle, die sich «klar auf die notwendigen Informationen» beschränke. Die Ermächtigung in der gewünschten Form sei im konkreten Fall erforderlich und die versicherte Person sei zur Abgabe dieser Ermächtigung gemäss den Allgemeinen Versicherungsbedingungen verpflichtet.

Individualisierte Vollmachten würden nicht mehr Datenschutz bieten und würden auch nicht die inhaltliche Abstimmung mit den vertraglichen Obliegenheiten sicherstellen.
Autor: AXA

Weiter schreibt die AXA: «Die Verhältnismässigkeit ist damit klar gegeben. Individualisierte Vollmachten würden nicht mehr Datenschutz bieten und würden auch nicht die inhaltliche Abstimmung mit den vertraglichen Obliegenheiten sicherstellen.» Dem betroffenen «Espresso»-Hörer ist nichts anderes übriggeblieben, als die Vollmacht zu unterschreiben. Ob er dereinst die Energie hat, bei der Krankentaggeldversicherung ein Auskunftsgesuch stellen will, weiss er noch nicht.

Espresso, 5.5.22, 08:13 Uhr

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