Auf einem alten Schwarzweiss-Foto steht ein kleines Mädchen mit einem Lederball im Arm. Sie lächelt schelmisch in die Kamera. Heute ist Madeleine Boll 71 Jahre alt – und die Grand Dame des Schweizer Frauenfussballs.
Geboren wird Boll in Granges im Wallis, einem Quartier mit wenig Mädchen in ihrem Alter, aber mit umso mehr Jungs, die den Ball kicken. Als ein Schulfreund mit dem FC Sion trainieren darf, will sie unbedingt mit. Und tatsächlich fragt der Trainer nach ihr und lässt sie mitspielen. Zum Schluss sagt er ihr nur: «Bring nächstes Mal Schuhe und Fussballshorts mit.» Boll bekomme heute noch Gänsehaut, wenn sie diese Geschichte erzählt: «Wie ein Traum, der Anfang meines Abenteuers.»
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Die erste Lizenz – und ihr jäher Entzug
Der FC Sion beantragt beim Schweizerischen Fussballverbands (SFV) daraufhin Lizenzen für seine Junioren – auch für Madeleine. Der Sekretär übersieht offenbar den weiblichen Vornamen, der Spielerpass wird bewilligt. «Ich bekam also irrtümlich dieses Geschenk und war sehr stolz. Ich durfte nun mit den Jungs spielen.»
Kurze Zeit später läuft Madeleine Boll als Linksaussen im Vorspiel der Europacup-Partie zwischen dem FC Sion und Galatasaray Istanbul auf – und wird zur Sensation. «Die lokale, nationale und internationale Presse überschlug sich», erinnert sie sich. Marianne Meier, Historikerin und Co-Autorin der «Geschichte des Schweizer Frauenfussballs», sagt: «Das war eine richtige Sensation. Das ging um die Welt.»
Der SFV handelt schnell
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Bild 1 von 5. Plötzlich steht da ein Mädchen auf dem Fussballplatz: Die 12-jährige Madeleine Boll spielt 1965 mit den Junioren von FC Sion gegen Galatasaray Istanbul. Bildquelle: SRF / Tagesschau 1965.
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Bild 2 von 5. Madeleine Boll fällt auf durch ihre Technik und Geschwindigkeit zwischen den Jungs. Bildquelle: RTS / Une Suisse, deux époques: Femmes de foot 2016.
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Bild 3 von 5. Internationale Reporter und Kommentatoren bewundern, dass Mädchen in der Schweiz Fussball spielen dürfen. Dies führt zu weltweiter Verwunderung und Sensation. Madeleine Boll erhält Zeitungsartikel und Briefe aus Ländern wie Venezuela und Kamerun. Bildquelle: ZVG Madeleine Boll.
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Bild 4 von 5. Am 11. Oktober 1965 erhält Madeleine Boll einen Brief des SFV: «Der erweiterte Zentralvorstand hat in der Angelegenheit von Madeleine Boll, Mitglied des FC Sion, beschlossen, dass ihre Lizenz mit sofortiger Wirkung annulliert wird.». Bildquelle: RTS / Une Suisse, deux époques: Femmes de foot 2016.
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Bild 5 von 5. Der SFV schenkt Boll ein Andenken – eine gravierte Platte mit zwei Männern . «Ein bisschen absurd», meint Fussballhistorikerin Dr. Marianne Meier. Bildquelle: ZVG Madeleine Boll.
Doch die Euphorie hält nicht lange. Der SFV wird auf die 12-Jährige aufmerksam, überprüft die Statuten und stellt fest: Fussball ist laut Reglement Männersache. Die Folge: Boll erhält einen Brief, in dem steht, dass ihre Lizenz «mit sofortiger Wirkung annulliert» wird. Sie ist das erste Mädchen der Schweiz mit einer Lizenz – und die erste, die sie wieder verliert.
Ein Vater kämpft für seine Tochter
«Für mich als 12-Jährige brach eine Welt zusammen», sagt sie. «Ich verstand dieses Spielverbot nicht.» Zum Glück hat sie Eltern, die hinter ihr stehen. Ihr Vater Jean Boll ist überzeugt: Seine Tochter ist nicht das einzige Mädchen in der Schweiz, das Fussball spielen will.
Jean Boll verwaiste früh, war mit 14 auf sich allein gestellt – und spürte nie den Druck von Eltern oder Grosseltern, seiner Tochter den Fussball zu verbieten. Er liebt seine Kinder, ist offen – und lässt Madeleine einfach machen. Und er handelt: 1970 ist er Mitgründer der Schweizerischen Damenfussball-Liga.
Mailand statt Mittelfeldverbot
1969 erhält die nun 16-jährige Boll ein Angebot aus Italien – sie könne im Epizentrum des Frauenfussballs spielen. Von da an pendelt sie jedes Wochenende nach Mailand – fünf Jahre lang. Morgens fährt sie in Sitten los, spielt am Nachmittag für Gommagomma, kehrt am Abend heim.
In Italien spielt sie in der besten Liga Europas. «Sie war eine der besten Spielerinnen», sagt Historikerin Marianne Meier. Auch Cathy Moser aus Suchy (VD) spielt für Gommagomma.
«Happy Tears» für die Zukunft
Heute blickt Madeleine Boll zurück – stolz, gerührt und überwältigt. Wenn sie an die Women’s EURO 2025 denkt, die in der Schweiz und in ihrer Heimat Sitten stattfindet, steigen ihr Tränen in die Augen.
«Ich muss weinen, weil das so grossartig ist. Wie wird es in einem Jahr [2025] sein, wenn sie nach Sitten kommen? Stellen Sie sich vor, 60 Jahre nach einem Europapokalspiel! Das ist aussergewöhnlich und grossartig.»
UEFA Women’s EURO 2025