Urs Siegenthaler fungiert seit 2005 als «Chefscout» beim DFB, selten tritt er an die Öffentlichkeit, seine Bedeutung für das deutsche Nationalteam ist aber unbestritten. So gilt Siegenthaler als einer der Architekten des deutschen Erfolgsmodells, er geniesst höchste Anerkennung. Der Aktionsradius des Schweizers geht weit über die Fussballarenen hinaus. Denn dort könne man höchstens «Nuancen» sehen, sagt er.
Den Halbfinal Niederlande gegen Argentinien habe er auch besucht, um nicht «hochmütig» zu erscheinen. Die Detailarbeit zum allfälligen Finalgegner sei aber schon vorher, über Monate und Jahre hinweg, geleistet worden. Kein Wunder händigte Siegenthaler Bundestrainer Löw schon unmittelbar nach deren Finalqualifikation ein umfangreiches Profil der «Gauchos» vor: Videosequenzen, Einschätzungen der Stärken und Schwächen, Taktik-Analysen.
Die Vermessung des Gegners
Doch der ehemalige Spieler und Cheftrainer des FC Basel liefert nicht nur harte Fakten. Er versteht sich als eine Art Seismologe des Fussballs: «Ein Architekt fährt ja auch nicht nach New York, um sich nur die Häuser anzuschauen, um anschliessend festzustellen, dass sie dort sehr hoch sind,» sagt Siegenthaler. «Es geht ihm darum, welche Materialien verwendet werden, welche Techniken angewendet werden.»
Was der 66-jährige Basler abliefert, ist denn auch eine tiefschürfende Vermessung des Gegners. Oder, wie der ehemalige Mittelfeld-Puncher Thorsten Frings nur halb im Scherz formulierte: Siegenthaler weiss, was der Gegner zum Frühstück isst.
Die Fussball-Idee steht hinten an
Für die WM in Brasilien kam Siegenthaler zu einer besonderen Erkenntnis, wie er im Tages-Anzeiger sagte: «Diese WM gewinnen 11 Männer und nicht 11 Fussballer.» Jetzt müsse die Spielidee auch mal hinten anstehen, man müsse sich auch mal auf andere Dinge besinnen – so etwa Standards. Diese waren bislang kein Teil der Vision des deutschen Hochgeschwindigkeitsfussballs: Bälle sollten nur dann zum Stehen kommen, wenn sie im Tor des Gegners liegen.
Der Confed Cup in Brasilien, an dem das Heimteam über Standards zum Titel kam, war ein Erweckungserlebnis für Siegenthaler. Löw, ansonsten kein Freund stereotyper Standards, nahm den Ratschlag an. Mit Erfolg: Schon sechs Treffer erzielte die DFB-Auswahl nach einem «ruhenden Ball».
Auch im Final gegen Argentinien dürfte, wie Siegenthalers Worte vermuten lassen, nicht der Schönheitspreis das Ziel sein: «Die Argentinier haben viele 'Schweinehunde', die genau wissen, was sie zu tun haben.» Das werden zweifelsohne auch die Deutschen wissen. Auch dank Siegenthaler.