Die Schweiz ist an der Frauen-WM nicht vertreten. Nichtsdestotrotz verfolgt Tatjana Haenni, Ressortleiterin Frauen- und Mädchenfussball beim Schweizerischen Fussballverband, die Geschehnisse in Frankreich genau. Im Interview spricht sie über Favoriten, das Medieninteresse und erklärt, wo sich der Frauenfussball nach wie vor schwertut.
SRF Sport: Tatjana Haenni, das Interesse an der WM in Frankreich ist gross. Wie nehmen Sie die Stimmung wahr?
Tatjana Haenni: Ich verfolge die WM auf allen möglichen Kanälen und stelle fest, dass der Event eine sehr grosse Bedeutung hat. Man spürt, dass sich die Leute für die WM interessieren, die Berichterstattung ist umfangreich. In England zum Beispiel generieren die Spielerinnen die Schlagzeilen in den Hauptseiten der grossen Tageszeitungen. In vielen anderen Ländern ist die Berichterstattung so umfangreich wie noch nie. Das ist für jemanden wie mich, der schon so lange im Frauenfussball tätig ist, ein Highlight.
Es gibt noch immer viele Bereiche, in denen die Frauen hinter den Männern anstehen müssen.
Der Eindruck täuscht also nicht, dass die Bedeutung des Frauenfussballs in den letzten Jahren weiter zugenommen hat?
Ganz und gar nicht. Es hat sich seit der letzten WM viel getan. Noch vor 8 Jahren wäre eine Berichterstattung, wie wir sie heute haben, undenkbar gewesen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Weltmeisterschaft ist der grösste Frauensportanlass weltweit. Der Event hat diese Aufmerksamkeit verdient.
Das klingt alles sehr positiv. Wo sehen Sie denn noch den grössten Handlungsbedarf?
Es gibt noch immer viele Bereiche, in denen die Frauen hinter den Männern anstehen müssen. Sei es bezüglich Unterkünften, Transport, Preisgeld oder Trainingsmöglichkeiten. Teams beklagen sich zum Beispiel auch, dass sie nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit trainieren können.
Sie haben praktisch jedes Vorrunden-Spiel gesehen. Wie schätzen Sie das Niveau bislang ein?
Es gibt einige Nationen, die technisch hervorragenden und schnellen Fussball zeigen. Allen voran für mich die USA. Auch wenn die Unterschiede nicht mehr ganz so gross sind, gibt es nach wie vor Teams, die den Anschluss noch nicht ganz geschafft haben. Das ist aber keine Überraschung. Nationen wie Thailand, Argentinien oder Chile erhalten von ihren Verbänden nur wenig Unterstützung, der nationale Frauenfussball ist noch entwicklungsfähig. Da treffen zum Teil Profis und Amateure aufeinander.
Welche Teams haben Sie ganz oben auf der Rechnung?
Wie erwähnt die USA. Sie verfügen über einen äusserst breiten Kader und haben sich bislang stark präsentiert. Zu den Favoriten zähle ich auch England und Frankreich, auch wenn beide Mannschaften noch Luft nach oben haben. Noch nicht vollends überzeugt haben mich Spanien oder die Niederlande, da erhoffe ich mir noch etwas mehr.
Wir haben in der Schweizer Fussballkultur noch immer nicht das richtige Denken, wenn es um Mädchen- und Frauenfussball geht.
Gar nicht erwähnt haben Sie Deutschland.
Deutschland ist eine Wundertüte. Sie sind im Vergleich zu früher nur noch eine unter vielen Top-Mannschaften. Einige Experten sind der Meinung, die Deutschen hätten den Anschluss verpasst. Ich finde, das sieht man auch an dieser WM. Aber Deutschland ist eine Turniermannschaft, man darf sie nicht ausser Acht lassen.
Die Schweiz hat die Qualifikation trotz bester Aussichten nicht geschafft. Wie sehr schmerzt es, dass die Nati nicht dabei ist?
Es schmerzt extrem! Vor allem wenn ich mir vorstelle, was eine Teilnahme hätte bewegen können. Wir haben in der Schweizer Fussballkultur noch immer nicht das richtige Denken, wenn es um Mädchen- und Frauenfussball geht. Nur jeder dritte Verein in der Schweiz verfügt über eine Mädchen- und Frauenabteilung, dabei wäre das Potenzial viel, viel grösser. Wir brauchen die Unterstützung der Wirtschaft, des Verbandes und der Vereine. Eine WM-Teilnahme hätte uns einen riesigen Schub gegeben.
Sendebezug: srf.ch/sport, Livestream, 20.6.2019, 20:50 Uhr