War die Beurteilung der Schweizer Nati nach dem Wales-Spiel noch einigermassen ambivalent, prasselte nach dem 0:3 gegen Italien heftige Kritik auf das Team herab. Noch deutlich düsterer ist die Stimmung indes in der Fussball-Türkei. Nach zwei Niederlagen und einem Torverhältnis von 0:5 könnte für das Team vom Bosporus selbst ein Vollerfolg über die Schweiz zu wenig für die Achtelfinals sein.
«Vom Potenzial der Mannschaft her ist es die grösste Enttäuschung im türkischen Fussball seit sehr langer Zeit», findet Erdem Ufak klare Worte. Der Türkei-Experte schiebt nach: «Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Türkei bisher das schlechteste Team des Turniers ist. Keine andere Mannschaft war bislang spielerisch so schwach.» Die Ernüchterung sei gross, bei Fans, Medien, aber auch in der Equipe. Hängende Köpfe im Training bezeugten dies, so Ufak.
Doch woran liegt's beim Team am Bosporus, wo die K.o.-Phase vor dem Turnier als Mindestziel ausgerufen worden war? Ufak macht mehrere hemmende Faktoren aus:
- Die Spielausrichtung: «Trainer Senol Günes lässt unerwartet defensiv spielen. Das war gegen Italien noch verständlich. Wales hatte stellenweise mehr Ballbesitz. Vergleicht man Marktwerte und Qualität, kann man nicht in die Partie steigen mit dem Ansatz: ‹Wir überlassen ihnen den Ball und setzen auf Konter.› Das hat nicht funktioniert.»
- Die Mentalität: «Merkt man als Spieler, dass der Matchplan nicht funktioniert, dann ist mehr Einsatz gefragt. Das fehlte bei den Türken komplett. Spricht man von Schuld, muss man auch über die Spieler reden. So viele Millionen schauen am TV zu, da muss man einfach mehr zeigen.»
- Die Unerfahrenheit: «Es ist eine unerfahrene Truppe, die nicht wusste, wie mit der Niederlage gegen Italien umgehen. Dennoch hat man Wales unterschätzt und ist mit dem Motto ‹Wird schon schief gehen› ins Spiel gegangen. Und: Die Routiniers Hakan Calhanoglu und Burak Yilmaz hätten mehr Verantwortung übernehmen müssen.»
Eine klare Niederlage gegen Italien, der laute Vorwurf, man habe zu wenig Einsatz gezeigt – es gibt Parallelen zwischen der Situation der Nati und dem türkischen Team. Doch Ufak sieht auch klare Differenzen. So sei die Schweiz in ihren beiden Partien viel stärker aufgetreten als die Türkei. «Ich tippe auf einen 2:1-Sieg der Schweiz. Ich hoffe, dass den Türken wenigstens noch ein Tor gelingt. Doch die Schweiz ist klarer Favorit.»
Noch ist der Achtelfinal-Zug für das Günes-Team nicht endgültig abgefahren, da auch 4 von 6 Gruppendritten weiterkommen. Doch das Torverhältnis (0:5) verschlechtert die Aussichten, wie Ufak betont: «Wir müssten die Schweiz wohl 3:0 schlagen, das halte ich für ausgeschlossen.»
Der Glaube an den Achtelfinal-Einzug sei so klein, dass auch vergangene Geschichten wie die «Schande von Istanbul» keine Rolle spielten. Dazu kommt: «Die heutigen Spieler sind auch mental anders, damals hiess es: ‹Wir ziehen in den Krieg.›»