Plötzlich zitterte die Stimme von Fred Kerley, fast wäre er in Tränen ausgebrochen. Im Moment seines grössten Triumphs wurde der neue Sprintkönig mit den vielen Muskeln und Tattoos ganz weich, weil er daran denken musste, wo er herkommt – und wem er alles zu verdanken hat. Seiner Tante Virginia.
«Sie hat ihr Leben für mich und meine Brüder, Schwestern und Cousins geopfert», sagte Kerley, nachdem er bei seiner Heim-WM in Eugene in 9,86 Sekunden zum ersehnten Gold gerast war: «Ich denke jeden Tag an sie. Wenn sie nicht gewesen wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich nicht mit Ihnen sprechen.»
Kerleys Geschichte ist ein amerikanischer Traum, von ganz unten kämpfte sich der 27-Jährige nach ganz oben – und sitzt jetzt auf dem Sprint-Thron. «Es ist ein tolles Gefühl, etwas erreicht zu haben», sagte Kerley, dem nie etwas geschenkt wurde, der sich alles erarbeiten musste: «Nicht viele Leute in meiner Position haben geschafft, was ich geschafft habe.»
Zu dreizehnt im Zimmer
Kerley wurde als Zweijähriger von seiner Tante zusammen mit seinen vier Geschwistern adoptiert, nachdem der Vater im Gefängnis gelandet war und die Mutter «im Leben auf Abwege geraten war», wie Kerley sagte. Die Tante zog danach 13 Kinder gross, nicht immer wurden alle satt, als Teenager landete Kerley fast im Gefängnis. «Wir hatten ein Schlafzimmer, 13 von uns in einem Schlafzimmer», erinnerte sich Kerley, aber: «Am Ende des Tages war es wie in jedem anderen Haus, wir hatten alle Spass – und wir machen jetzt tolle Sachen.»
Kerley nahm den Nachnamen seiner Tante an und liess sich schliesslich ihren Spitznamen «Meme» auf den Arm tätowieren, «damit sie immer bei mir ist», sagte der Olympia-Zweite von Tokio, für den als Topfavorit nur Gold zählte. «Ich bin ihr dankbar, dass sie mich in die Lage versetzt hat, im Leben zu gewinnen», sagte Kerley über seine Tante.
Kein Showman, eher Arbeiter
Im Hayward Field lag Kerley zunächst hinten, aber er hatte diesen unbedingten Willen, auf den letzten Metern nach ganz vorne zu kommen. Seine Landsleute Marvin Bracy und Trayvon Bromell (beide 9,88) machten den Dreifach-Triumph für die Gastgeber perfekt. «USA, USA, USA», schallte es durch das Stadion.
Kerley ist kein Showman wie es Usain Bolt war, er läuft auch nicht elegant, er arbeitet die 100 m. Die Leichtathletik ist sein Job, als Weltmeister hofft er jetzt auf das grosse Geld. «Ich weiss, dass sich heute viele Türen für mich geöffnet haben. Die Zukunft ist rosig für mich», sagte Kerley, der über die 200 m auf den nächsten Coup hofft. Ausserdem will er natürlich noch die 4x100-m-Staffel zu Gold führen, vielleicht auch die 4x400-m-Staffel.
Mit seiner Geschichte hofft Kerley, ein Vorbild für andere zu sein. «Was mich motiviert, ist die Tatsache, dass ich von dort komme, wo ich herkomme», sagte er: «Und dass ich auch in Zukunft Grosses leisten will.» Tante Virginia, Kerleys grösster Fan, wird dann in San Antonio wieder vor dem Fernseher sitzen.