Endlich: Nach heftigen internen Turbulenzen und langer Corona-Auszeit schreibt das Kunstturnen in der Schweiz wieder positive Schlagzeilen. Bis am Sonntag ist Basel Gastgeber der Europameisterschaften. «Es war dringend, dass wieder Wettkämpfe stattfinden können, auch wenn ganz spezielle Schutzkonzepte eingehalten werden müssen», findet Béatrice Wertli.
Die 45-jährige Aargauerin wirkt seit 1. März als Direktorin des Schweizerischen Turnverbands (STV), der unter seinem Dach knapp 3000 Vereine vereint. «Um eine Krise zu überwinden, ist es wichtig, dass man sich zusammen bewegen kann. Der Sport kann dabei Vorbildcharakter haben, die Spitze braucht die Breite – und umgekehrt ebenso.»
Hin- statt wegschauen – und zwar sehr genau
Die weltumspannende Pandemie ist die eine Herausforderung, die der STV zu meistern hat. Die andere ist hausgemacht: Immer wieder sahen sich in der Vergangenheit Vertreterinnen der Rhythmischen Gymnastik wie des Kunstturnens im täglichen Trainingsalltag physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Wertli ist gekommen, um aufzuräumen. In der SRF-Radio-Sendung Tagesgespräch gab sie am Donnerstagmittag Einblick in ihr Tätigkeitsfeld.
Die Lektüre des kürzlich erschienen ersten Abschlussberichts einer unabhängigen Ethikkommission habe sie tief betroffen gemacht. Als Beweggrund für ihre damalige Bewerbung nennt sie: «Es gibt kein Wegschauen mehr, stattdessen will ich hinschauen – und zwar konsequent. Meine Verantwortung ist es, Transparenz zu schaffen.»
Ein längerer Prozess
Wertli will einen Kulturwandel vollziehen. Dabei möchte sie die Vergangenheit nicht ausblenden, sondern aus ihr lernen und entsprechend die Zukunft gestalten. «Wir müssen mit neuen Standards vorausgehen. Athletinnen und Athleten sollen bei uns ein Umfeld vorfinden, um sich weiterentwickeln zu können und sich gleichzeitig sicher fühlen.»
Wir müssen der Gesundheit und den Trainingsmethoden mehr Rechnung tragen.
In erster Linie in der Rhythmischen Gymnastik geht die Neuausrichtung einher mit der Abkehr von ambitionierten Leistungszielen. «Es muss ein Umdenken stattfinden, wir müssen der Gesundheit und den Trainingsmethoden mehr Rechnung tragen», präzisiert Wertli. So etwa werden in dieser Sparte die Olympia-Ziele gestrichen, um Druck von den Schultern der Gymnastinnen zu nehmen. Es braucht eine breitere Basis.
Die Verantwortliche arbeitet sehr eng mit Swiss Olympic zusammen und beteuert: «Themen wie Werte und Ethik sind bei uns im Sport omnipräsent.» Die Aufarbeitung sei noch lange nicht abgeschlossen, ein Wandel brauche Zeit und liesse sich nicht an einem Datum festmachen. «Unser Bestreben ist es, bestmögliche Strukturen zu schaffen, die Vorfälle künftig verhindern.»