Zum ersten Mal seit 6 Jahren wird der Sieger der Tour de France heuer aller Voraussicht nach nicht aus dem Team Ineos (früher Sky) kommen. Der Kolumbianer büsste am Sonntag im Schlussanstieg zum Grand Colombier 7:20 Minuten auf den Gesamtführenden Primoz Roglic ein – im Radsport eine halbe Ewigkeit.
Damit wird sich der «Fluch der vergangenen Jahre» fortsetzen. Seit Miguel Indurain (1991/92) hat kein Fahrer seinem ersten Titel im folgenden Jahr sogleich den zweiten hinzugefügt.
Alles auf Bernal gesetzt
Bernals Schwäche hatte sich in den vergangenen Tagen angedeutet. Am ersten Tag in den Pyrenäen tat sich der junge Kolumbianer schwer, hielt sich aber noch schadlos. Die 30 Sekunden, die er in Le Puy Mary einbüsste, hätte man auch als schlechten Tag abtun können. Am Sonntag aber wurde Bernals Schwäche am happigen Schlussaufstieg gnadenlos entlarvt.
The Ineos post-mortem can wait, but Egan Bernal's reign as champion is over.
Sind die Rückenprobleme schuld, die Bernal am Dauphiné zum vorzeitigen Ausstieg gezwungen haben? Ihm habe den ganzen Tag die Kraft gefehlt und er sei nicht in seiner normalen Form gewesen, suchte der Kolumbianer nach dem Debakel am Sonntag nach Erklärungen. «Heute taten mir die Beine mehr weh als der Rücken.»
Bernal hatte nach der Dauphiné den Vorzug gegenüber Chris Froome und Geraint Thomas erhalten. Bei Ineos muss man sich nun allerdings eingestehen, dass mit Bernal auch der formstärkste der drei früheren Tour-Sieger nicht mit der Konkurrenz mithalten konnte.
Dampfwalze löst Dampfwalze ab
Man kann darüber spekulieren, ob der Druck auf den Schultern des erst 23-jährigen Bernals zu gross war. Auch kann man sich die Frage stellen, ob es ein Fehler war, auf einen so erfahrenen Grand-Tour-Spezialisten wie Thomas zu verzichten. Im Gegensatz zu Froome läuft es dem Tour-Sieger von 2018 am Tirreno derzeit ganz gut. Ob sich Thomas in Frankreich aber mit einer reinen Helferrolle hätte identifizieren können, bleibt offen.
Fakt ist: Ein Schlussaufstieg in einer entscheidenden Etappe ohne Ineos-Fahrer, das war im letzten Jahrzehnt fast undenkbar. Nun scheint die Wachablösung Tatsache geworden zu sein. Die neue «Dampfwalze», wie Gesamtleader Primoz Roglic die Arbeit seiner Mannschaft beschrieb, heisst Jumbo-Visma.
Noch dauert die Tour knapp eine Woche. Was danach bei Ineos geschieht, wird sich zeigen. Oder wie es die britische Tageszeitung The Telegraph formulierte: «Der Abgesang des Teams Ineos kann warten, aber Egan Bernals Herrschaft als Champion ist vorbei.»