Egan Bernal schwächelte in der letzten Giro-Woche fast täglich. Er wankte bei der Bergankunft in Sega di Ala, wankte beim Schlussanstieg auf die Alpe di Mera, wankte am Samstag bei der finalen Höhenschlacht in der Schweiz, als Damiano Caruso 55 Kilometer vor dem Ziel attackierte. Aber Bernal fiel nicht.
Für den Kolumbianer ist der Giro-Gesamtsieg so etwas wie eine Wiederauferstehung. Nachdem er sich 2019 mit 22 Jahren zum jüngsten Tour-Sieger gekrönt hatte, musste Bernal phasenweise unten durch.
Dank Leidensfähigkeit und Lokomotive Martinez
Im Vorjahr gab er die Tour de France als Titelverteidiger auf – formschwach und mit Rückenbeschwerden. Danach zweifelte nicht nur der einst als Wunderknabe bezeichnete Bernal an seinen Fähigkeiten. Auch an seiner Befähigung als Captain eines Top-Teams wie Ineos wurde gezweifelt.
Beim Giro kämpfte er alle Zweifel, die ihn begleiteten, nieder. Auf der 11. Etappe, als er 35 Kilometer der ungeliebten toskanischen Schotterpisten überstand. Beim Sieg auf der Dolomiten-Königsetappe, bitterlich frierend und durchnässt. Bernal glänzte in Italien mit grosser Leidensfähigkeit.
Verlassen konnte sich der 24-Jährige auf eine einmal mehr bärenstarke Ineos-Grenadiers-Mannschaft. Insbesondere Landsmann und Freund Daniel Martinez wich Bernal nie von der Seite. «Er ist ein grosser Fahrer», adelte Bernal seinen wichtigsten Helfer, «das, was wir hier erreicht haben, haben wir auch für Kolumbien erreicht.»
In Gedanken war der Giro-Sieger bei seiner krisengeschüttelten Heimat, in der regelmässig Demonstranten gegen die Steuerpolitik niedergeknüppelt wurden. «Die Toten und die Misshandlungen der Obrigkeit gegen die Protestierenden schockieren mich», sagte Bernal, der auch deshalb nicht mehr als der unbeschwerte Jüngling auftrat, als der er einst die Tour gewann.