Nicht viel, ziemlich wenig sogar, deutet auf dem Papier darauf hin, dass Jolanda Neff an der WM am Samstag im olympischen Cross Country reüssieren wird. Die Ostschweizerin ist mit einem 6. Platz als Bestergebnis im laufenden Weltcup nach Schottland gereist. Zweimal klassierte sie sich in vier Weltcuprennen in den Top 10, Vierte wurde sie an der EM, Zweite an den Schweizer Meisterschaften.
Es ist ein bescheidender Leistungsausweis für eine Athletin ihres Renommees, die wie Nino Schurter die wichtigsten Titel im Mountainbike-Sport gewonnen hat. Doch der Schein trügt, denn dahinter steckt auch Kalkül: «Der Formaufbau ist klar auf die WM ausgerichtet», hatte Neff vor dem Saisonstart im Mai betont. Jemandem im Weltcup etwas zu beweisen, sei nicht ihr Ansporn.
Tatsächlich lässt sich aus den Resultaten eine Tendenz ablesen: Je näher die WM rückte, desto besser schnitt Neff in den Rennen ab. Beim 6. Platz vor einem Monat in Val di Sole legte sie nach einem Defekt von ausserhalb der Top 30 eine Aufholjagd im Stil einer Siegfahrerin hin.
Parallelen zu Tokio 2021
Für die WM lässt diese Entwicklung hoffen, zumal es mehrere Parallelen zu 2021 gibt: Auch vor dem sensationellen Olympiasieg vor ihren Teamkolleginnen Sina Frei und Linda Indergand hatten die Saisonresultate nicht für Neff gesprochen.
Wie in Tokio könnte der Regen in Glentress Forest zum Faktor werden. Wie vor Tokio blicken Neff und das Schweizer Nationalteam auf ein sehr gut verlaufenes gemeinsames Trainingslager zurück, und wie 2021 hatten die Athletinnen mehrere weltcupfreie Wochen zur optimalen Vorbereitung auf den Saison-Höhepunkt.
Voraussetzungen besser als 2021
«Tatsächlich kam mir nach den letzten Weltcups in Leogang und Val di Sole immer wieder Tokio in den Sinn», sagt Neff. «Auch damals merkte ich im zweitletzten Rennen, dass ich wieder näher an der Spitze bin. Und wie damals erhielt ich im letzten Rennen mit der Aufholjagd die Bestätigung, dass ich wieder vorne mitfahren kann.»
«Was noch kommt, ist gewissermassen Zugabe.»
Kommt hinzu, dass der innere Stress, der in früheren Jahren verschiedentlich zur Unzeit das Immunsystem schwächte, mit den Erfolgen und der Erfahrung kleiner geworden ist. Weltmeisterin war sie schon, Olympiasiegerin ist sie auch. «Was noch kommt, ist gewissermassen Zugabe», sagte Neff unlängst. Genau diese Gelassenheit spielt ihr in die Karten. Nach wie vor verfolgt die dreifache Gesamtweltcupsiegerin das Ziel, wieder auf das Level der besten Jahre bis 2018 zu kommen. Der Erfolgshunger ist noch da, die bisweilen hindernde Anspannung nicht mehr in dem Ausmass.
Dass Neff an Weltmeisterschaften auch ohne Weltcupsiege ein Faktor ist, hat sie schon in aller Regelmässigkeit bewiesen: Seit dem WM-Titel 2017 klassierte sie sich nie schlechter als auf dem 6. Rang. Zwei weitere Silbermedaillen kamen hinzu, die letzte im Vorjahr in Les Gets hinter Pauline Ferrand-Prévot.