Bernhard Russi ist zurück in Wengen. Im Vorjahr hatte er die Lauberhorn-Rennen erstmals seit über einem halben Jahrhundert verpasst. Er war zu diesem Zeitpunkt in China. Für die Olympischen Spiele 2022 konzipiert er die Abfahrtspiste. Zuvor hatte Russi dem Berner Oberland stets seine Aufwartung gemacht: als Mitfavorit, Kamerafahrer, SRF-Experte.
Zweimal schaffte er es aufs Podest. Der Titel «Lauberhorn-Sieger» fehlt indes in seinem reichhaltigen Palmarès. Auch aus Pech: 1972 und 1973 musste die Abfahrt an Ersatzorten ausgetragen werden. Er feierte erst in Gröden und dann in Grindelwald – vor Erzrivale Roland Collombin – «Exil-Triumphe».
Dass er diese Siege nicht durch Bezwingen von Russi-Sprung, Hundschopf und Brüggli-S errang, tut seiner Popularität keinen Abbruch. Fotowünsche hier, Interviewanfragen da. Russi nimmt sich die Zeit.
Ich bin keiner, der sein ganzes Leben arbeiten musste.
Dabei ist er alles andere als unausgelastet, er, der sich vor rund einem Monat in Andermatt mit einem eigenen Restaurant einen Jugendtraum erfüllt hatte. Erst am späten Freitagabend war er aus Peking angereist. Der 71-Jährige meint bescheiden: «Ruhestand muss nicht sein. Ich bin keiner, der sein ganzes Leben arbeiten musste. Vielmehr war ich beschäftigt – und das bin ich heute noch.»
Die Flüge dürften indes bald weniger werden. «Olympia 2022 ist wohl meine letzte Abfahrtstrecke», bestätigt Russi. Er ist seit einiger Zeit daran, Didier Défago als seinen Nachfolger aufzubauen. Für die Arbeit in China hat Russi nur lobende Worte: «Wenn man dort arbeitet und etwas vollbringen will, ist es die beste Zusammenarbeit, die ich je erlebt habe.»
Im Hinterkopf habe ich immer noch ein gewisses Angstgefühl.
Den Zielhang der Lauberhorn-Abfahrt im Hintergrund, erzählt Russi, er vermisse das Renngefühl nicht mehr. Er sei mittlerweile «ein richtiger Ski-Fan.» Und: «Im Hinterkopf habe ich immer noch ein gewisses Angstgefühl, weil man weiss, was passieren kann – egal, wie gut die Piste abgesichert wird.» Als Fahrer könne man diese Angst besser verstecken, bewusst den Begriff «Ehrfurcht» verwenden. «Wenn die Karriere vorbei ist, gibt man zu: Ich hatte schon 2-3 Mal Angst.»
Auch die Arbeit als Co-Kommentator fehlt Russi nicht. «Es ist ein unheimliches Glück, wenn man über 38 Jahre über etwas reden kann, das man zuvor gemacht hat», erzählt der Andermatter. Der Abschied sei jedoch zum perfekten Zeitpunkt gekommen.
Wie sehr ist der frühere Weltmeister und Olympiasieger Analytiker geblieben? «Zu 100 Prozent», ist sich Russi sicher, «Ich bin sehr kritisch, egal ob Training oder Rennen. Gerade wenn ein Abfahrer ein Fehler macht, den ein Abfahrer nicht machen darf.»
So wird die Sport-Legende, der Pistenarchitekt, Ski-Fan und Gastwirt bestimmt auch in den nächsten Jahren genau beobachten, wer die schnellste Linie über die Minsch-Kante zieht. Und er wird sich auch dann Zeit nehmen: für Interviews und Fotos.
Sendebezug: SRF zwei, sportlive, 18.01.2019, 12 Uhr