Es wirkt wie eine schlichte Formalie, als im Mai 2014 «Stanislas» beerdigt wird. Sein Schützling wolle die Courts fortan als «Stan Wawrinka» betreten, erklärt Manager Lawrence Frankopan. «Stanislas» sei «lang, sperrig», lade regelrecht zu falscher Aussprache ein. Der Lausanner werde auf der Tour ohnehin «Stan the Man» genannt.
Der Zeitpunkt ist kaum zufällig. Kurz zuvor hat Wawrinka in Melbourne Historisches erreicht, als 2. Schweizer ein Grand-Slam-Turnier gewonnen. Das Interesse am schüchternen Bauernsohn aus dem Örtchen Saint-Barthélemy steigt. Da passt die verkürzte Form des Vornamens schlicht besser.
Es geht auch um die Emanzipation vom Image des «Marathon Man». Zwar drückt der Spitzname trefflich das Arbeitsethos dieses Unbeugsamen aus. Doch insinuiert er zugleich, dass noch zu oft die Klasse fehlt, um Partien vor Ablauf der vollen Distanz entscheiden zu können.
Dazu passt, dass Wawrinka 2013 zwei Marathon-Matches verloren hat: den Achtelfinal der Australian Open nach 5 Stunden gegen Novak Djokovic. Und im Davis-Cup-Doppel mit Marco Chiudinelli endet der Entscheidungssatz gegen Tschechien nach 7 Stunden 22:24. Die Reaktion darauf steckt in Wawrinkas Tattoo auf dem Unterarm: «Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Versuche es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.»
Auf die bitteren Niederlagen folgt die stärkste Phase der Karriere. Nach Australian Open, Monte Carlo und Davis Cup 2014 triumphiert er im Jahr darauf in Roland Garros, macht sich eine Saison später an den US Open zu «Wowrinka» – beide Male nach Finalsiegen über Djokovic. 12 seiner 16 ATP-Titel erringt er zwischen 2013 und 2016. Ehrfürchtig sprechen Gegner vom «Stanimal».
Die Erfolge lösen ein Versprechen ein, das er 18-jährig mit dem Junioren-Titel an den French Open abgegeben hat und mit dem ersten ATP-Titel 2006 in Umag weiter befeuert. An Roger Federers Seite bejubelt er 2008 Olympia-Gold, doch zwischen ATP-Pokal Nummer 1 und 2 ziehen knapp 4 Jahre ins Land. Beim Gewinn der Australian Open ist Wawrinka fast 29 Jahre alt, Federer hat im selben Alter 16 seiner 20 Major-Trophäen eingefahren.
Meilensteine in Wawrinkas Karriere
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Bild 1 von 10. Juni 2003, Junioren-Titel French Open. Während der unaufhaltsame Aufstieg eines gewissen Roger Federer so richtig beginnt, macht bei den Junioren ein weiterer Schweizer auf sicher aufmerksam: Der Nachwuchstitel in Roland Garros geht an einen 18-jährigen Waadtländer namens Stan Wawrinka. Bildquelle: KEYSTONE/AP Photo/Str.
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Bild 2 von 10. Juli 2006, erster Turniersieg auf der ATP-Tour. Ende Juli 2006 steht die damalige Weltnummer 69 erstmals in einem Final der ATP-Tour. Im kroatischen Umag trifft der 21-jährige Wawrinka auf den 2 Jahre jüngeren Novak Djokovic. Letzterer muss im Tiebreak des Startsatzes beim Stand von 3:1 aus seiner Sicht verletzt aufgeben. Das Jahr beendet Wawrinka als Weltnummer 30. Bildquelle: KEYSTONE/EPA/ANTONIO BAT.
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Bild 3 von 10. August 2008, Olympisches Gold im Doppel. Der Jubel zeigt es: Wawrinka ist in Peking an der Seite von Federer «on fire». Ein klarer Zweisatz-Sieg im Halbfinal über das topgesetzte US-Duo Bob und Mike Bryan unterstreicht die Ambitionen der Schweiz auf olympisches Gold. Im Final werden dann auch noch die ungesetzten Schweden Simon Aspelin und Thomas Johansson aus dem Weg geräumt. Bildquelle: Imago/Paul Zimmer.
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Bild 4 von 10. Schweizer des Jahres 2013. Wawrinka wird in der Schweiz mittlerweile über den Sport hinaus geschätzt. Beweis dafür: Er wird vom TV-Publikum zum Schweizer des Jahres gewählt; vor dem Komiker-Duo Divertimento und Sänger Bastian Baker. 2015 wird er als Sportler des Jahres endgültig aus Federers Schatten heraustreten. Bildquelle: Keystone/Ennio Leanza.
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Bild 5 von 10. Januar 2014, Australian Open, 1. Major-Triumph. Der frischgebackene Nationalheld liefert umgehend. Ab Januar 2014 ist Wawrinka der 2. Schweizer Mann, der sich die Einzel-Trophäe eines Grand-Slam-Turniers in die Vitrine stellen kann. In Melbourne muss der «Marathon-Man» gegen Djovokic über die volle Distanz. Im Final ringt er Rafael Nadal nieder. Bei den Frauen jubelt Li Na. Bildquelle: Keystone/EPA/DAVID CROSLING.
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Bild 6 von 10. April 2014, Schweizer Final in Monte Carlo. Erstmals in der Tennisgeschichte wird ein ATP-1000-Turnier zwischen zwei Schweizern entschieden. Am Ende darf sich im Fürstentum Wawrinka im Duell mit Federer von Prinz Albert und Prinzessin Charlène beglückwünschen lassen. Bildquelle: Keystone/AP Photo/Michel Euler.
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Bild 7 von 10. November 2014, Sieg im Davis Cup. Noch schöner als ein reiner Schweizer Final? Ein von Schweizern gewonnener Final. Zusammen mit den Endspiel-Reservisten Marco Chiudinelli und Michael Lammer schreiben «Fedrinka» Geschichte. Auswärts gegen Frankreich setzt sich die Equipe von Swiss Tennis 3:1 durch. Wawrinka gewinnt sein Einzel und das Doppel mit Federer. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 10. Juni 2015, Triumph an den French Open. 12 Jahre nach dem Juniorentitel folgt an der Porte d'Auteuil der Triumph bei der Elite. Der nun 30-Jährige schlägt der Reihe nach Federer, Jo-Wilfried Tsonga und schliesslich Djokovic. Und doch dominiert seine spezielle Hose die Schlagzeilen. Wawrinka nimmt's mit Humor und schmunzelt, er verwende die Shorts auch zum Baden und Schlafen. Bildquelle: imago images/USA TODAY Network.
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Bild 9 von 10. September 2016, Triumph an den US Open. Wawrinkas ganz besonderer Hattrick: Im 3. Jahr in Folge gewinnt er ein Grand-Slam-Turnier. Nach seiner Top-Vorstellung im Final gegen Djokovic geht's in New York hoch zum Shooting aufs Top of the Rock. Bildquelle: Keystone/EPA/JUSTIN LANE.
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Bild 10 von 10. Mai 2017, letzter Turniersieg in Genf. Wie 2016 heisst der Sieger am Lac Léman Stan Wawrinka. Auf dem Genfer Sand schlägt er im Final Mischa Zverev und feiert seinen 16. Turniersieg im Einzel. Es soll sein bisher letzter bleiben. Auch, weil er 2019 in den Finals von Rotterdam und Antwerpen Gaël Monfils respektive Andy Murray unterliegt. Bildquelle: Keystone/Salvatore Di Nolfi.
Über Problem und Lösung sind sich Experten retrospektiv einig: Mentalität und Magnus Norman. Der Schwede, der 2013 sein Traineramt antritt, weckt im sensiblen Wawrinka den Champion. Ein Kämpfer, der mit seinem Paradeschlag innert Sekunden vom Arbeiter zum Künstler mutiert: die einhändige Rückhand, eine Symbiose aus Ästhetik und Wucht. Niemand hat eine vergleichbare Backhand im Repertoire.
Norman verbessert Wawrinkas Vorhandspiel, stabilisiert dessen Psyche. Aus Schwächen werden Stärken, sinnbildlich der Jubel des Romands nach grossen Siegen: Der rechte Zeigefinger an der Schläfe – alles Kopfsache.
Doch manchmal schlägt der Körper den Geist. Nach Genf 2017 gewinnt Wawrinka kein Turnier mehr. 2019 kassiert er beim Comeback nach einer Knie-OP Finalniederlagen in Rotterdam und Antwerpen. 2021 folgen Operationen am Fuss, längst wird öffentlich über seinen Rücktritt debattiert – Spekulationen, die er lächelnd abwehrt. ¨
Champion und Fan-Liebling
Seinen Traum, noch einen letzten Titel zu gewinnen, verfolgt er auch auf der Challenger Tour. Im September kommt er diesem mit einer Finalteilnahme in Rennes nahe. Nun geht Wawrinka, der im März sein 42. Lebensjahr antreten wird, auf einjährige Abschiedstour – mit Wildcards auf der ATP-Tour, sonst eben eine Stufe tiefer.
Zweifellos wird er bei jedem seiner Auftritte bejubelt werden. Denn der einstmals schüchterne Bauernsohn ist nicht nur ein Champion geworden, sondern auch ein Fan-Liebling. Oder schlicht: «Stan the Man».