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Mythen über unsere Abwehr «Ein noch so gutes Immunsystem schützt nicht vor Covid»

Im Winter läuft unser Immunsystem auf Hochtouren. Viele versuchen deshalb, ihr Abwehrsystem mittels Präparate zusätzlich zu stärken oder gar zu trainieren, indem man sich Infektionen aussetzt. Claudia Daubenberger zu Tatsachen und Irrtümern über das komplexe Kämpfer-Netzwerk.

Claudia Daubenberger

Leiterin der klinischen Immunologie

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Claudia Daubenberger ist Leiterin der klinischen Immunologie am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Epidemiologie von Infektionskrankheiten, vor allem in Ländern des globalen Südens. Sie hat langjährige Erfahrung in der klinischen Entwicklung von Impfstoffen, vor allem gegen Malaria und Tuberkulose in Afrika.

SRF Wissen: Was halten Sie von der Aussage, dass jemand, der gesund lebt und ein funktionierendes Immunsystem hat, keine Impfung braucht?

Claudia Daubenberger: Das ist ein grosser Irrtum, den ich momentan sehr oft höre: Leute, die gut schlafen, sich regelmässig bewegen und viel Obst und Gemüse essen, erkranken nicht an Covid-19. Diese Annahme ist nicht nur falsch, sondern hoch gefährlich!

Leute, die gut schlafen, sich regelmässig bewegen und viel Obst und Gemüse essen, erkranken nicht an Covid-19. Diese Annahme ist nicht nur falsch, sondern hoch gefährlich!

Ein noch so gestärktes Abwehrsystem schützt nicht vor Covid-19?

Die Impfung bleibt die beste Vorbereitung auf das Virus. Kommt es zu einer Infektion, ist die Chance eindeutig höher, dass mein Immunsystem das Wettrennen gegen die sich vermehrenden Viren gewinnt. Es ist wahrscheinlicher, dass ich die Viren eindämmen kann, bevor sie mich krank machen, weil mein Immunsystem die Erreger bereits kennt.

Was halten Sie von der Gleichung schwaches Immunsystem, also schwere Corona-Erkrankung?

Da ist etwas dran. Eine gut funktionierende Immunabwehr kann uns in einem gewissen Mass gegen einen schweren Verlauf schützen. Im Durchschnitt reagiert der Körper eines 80-Jährigen schwächer als der einer 20-Jährigen, weil die Abwehrkräfte mit dem Alter abnehmen.

Doch auch junge Menschen können sich nicht komplett auf ihr Immunsystem verlassen. Es gibt tragische Fälle von jungen, top fitten Menschen, die schwer an Corona erkranken oder sogar sterben.

Man hört immer wieder, dass man sich Infektionen aussetzen soll, um seine Abwehrkräfte zu verbessern. Was sagt die Wissenschaft dazu?

Diese Frage ist meiner Meinung nach ideologisch gefärbt. Dahinter steckt eine Risikoabwägung. Wenn mein Kind an einer Maserninfektion möglicherweise sterben kann, muss ich mir als Eltern überlegen: Impfe ich mein Kind nicht, dann wird das kindliche Immunsystem mittels natürlicher Infektion trainiert – allerdings mit einem hohen Risiko von negativen Nebenwirkungen. Wollen Eltern dieses Risiko wirklich eingehen, wenn wir im Besitz von sehr sicheren und wirkungsvollen Impfstoffen gegen Masern sind?

Bezüglich der jetzigen Pandemie betrifft das Risiko einer natürlichen Sars-CoV-2-Infektion mit Long Covid leben zu müssen.

Aber stimmt es, dass durch eine Infektion eine bessere Immunantwort gebildet wird als durch eine Impfung?

Die Frage kann nicht so eindeutig beantwortet werden; sie muss von Infektionskrankheit zu Infektionskrankheit spezifisch betrachtet werden. Im Falle von Sars-CoV-2 stellen wir fest, wer sich auf natürlichem Weg infiziert hat, kann sich danach noch mal mit dem Virus anstecken. Das bedeutet, es gibt keinen 100-prozentigen Schutz durch diese Art der natürlichen Immunisierung.

Können wir unser Immunsystem generell trainieren?

Eine Impfung oder auch eine Infektion mit dem dazugehörigen Risiko, kann man als spezifische Trainingseinheit bezeichnen, die unser Immunsystem fit macht gegen einen bestimmten Erreger. Gleichzeitig können wir unser Immunsystem durch einen gesunden Lebensstil «pflegen», das heisst seine Funktion über lange Zeit gut erhalten, indem wir unter anderem Sport treiben, uns ballaststoffreich ernähren – also mit ausreichend Gemüse und Obst – und genügend schlafen.

Durch eine ausgeglichene Lebensweise – genügend Schlaf, gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung – können wir unser Immunsystem pflegen.

Inwiefern unterstützen Ergänzungsmittel wie Vitamin-Präparate und Mineralstoffe unser Abwehrsystem?

Von diesen Pillen lebt eine riesige Industrie. Wer sich ausgewogen ernährt und gesund ist, dem helfen Vitaminpillen sehr wenig. Das Immunsystem ist dann schon mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt. Die zusätzlichen aufgenommenen Vitamine und Mineralstoffe scheidet der Körper über den Stuhl oder Urin wieder aus.

Immunsystem: Immer im Wechselspiel mit der Umwelt

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  • Das Immunsystem ist bei jedem Menschen einzigartig. Je nachdem, wie und wo man lebt, formt es sich anders aus. Durch die Interaktion mit der mikrobiellen Umwelt bildet sich das Immunsystem ein Leben lang aus.
  • Unser Organismus lebt seit Hunderttausenden Jahren auf der Erde, wodurch wir eine Art Symbiose mit Mikroben, Pilzen, Bakterien und Viren entwickelt haben.
    «Diese Symbiose bestimmt unser Leben», sagt Claudia Daubenberger des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut.
  • «Wir können gar nicht steril leben, selbst wenn wir wollten und dies technisch möglich wäre», so die Immunologin Daubenberger. Verschiedene Studien mit Mäusen aus den USA und Deutschland zeigen, wie gefährlich ein steriles Leben sein kann. Mäuse, die in sterilen Käfigen lebten und keimfreie Kost frassen, waren deutlich anfälliger für Krankheiten als ihre bakterienbesiedelten Verwandten.
  • Grundsätzlich wird zwischen dem angeborenen und dem erworbenen Immunsystem unterschieden. Ersteres funktioniert bereits ab der Geburt und kann sehr schnell in Aktion treten. Es geht aber immer mehr oder weniger gleich gegen Erreger vor, weshalb es auch als unspezifisch bezeichnet wird.
    Das erworbene Immunsystem hingegen lernt Krankheitserreger kennen und kann diese später effektiver bekämpfen. Bei einer Impfung gegen beispielsweise Sars-CoV-2 wird also das erworbene Abwehrsystem aktiv.
  • Das Immunsystem ist Alterungsprozessen unterworfen, sprich die Wirksamkeit des Systems lässt im Alter nach. Beispielsweise kennt das Immunsystem von älteren Menschen zwar gewisse Erreger besonders gut und kann effektiv gegen sie vorgehen, aber gegen neue Feinde kann es häufig nicht mehr optimal vorgehen.

Das Gespräch führte Nina-Lou Frey.

Sternstunde Philosophie, 16.01.2022, 11:00 Uhr ; 

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